Das fremde Innen, der Fremde außen

Wie gehen wir mit Fremden, mit Andersartigkeit um: Feindlich? Offen? Ignorierend? Die Antwort ist nicht selten die Entscheidung zwischen Gewalt und Dialog, zwischen Krieg und Frieden.

Erschienen im Buch Culture Counts. Wie wir die Chancen kultureller Vielfalt nutzen können, Econ 2009

Was ist fremd? Eigentlich eine ganz einfache Frage. Aber auch eine besonders brisante. Wie gehen wir mit Fremdem und mit den Fremden um: feindlich? offen? ignorierend? Die Antwort ist nicht selten die Entscheidung zwischen Gewalt und Dialog, zwischen Krieg und Frieden. Der zweite Grund für ihre Brisanz: Noch nie in der Geschichte haben sich Fremdes und Vertrautes im Alltag von Menschen so intensiv vermischt wie heute. In der Nachbarschaft, im Zugabteil, in der Firma: Das Fremde begegnet uns auf Schritt und Tritt. Westfälischen Wurstessern sind Vegetarier fremd, die indischen Weisheitslehren anhängen. Und umgekehrt. Dem von Heavy Metal Musik begeisterten Mitglied eines Harley Davidson Clubs sind Mineralien sammelnde Philosophielehrerinnen suspekt. Und umgekehrt. Ein schwuler Modedesigner, der zwischen London und Paris pendelt, findet Kleinfamilien „strange“, die entlang von S-Bahn-Linien in Reihenhäusern siedeln. Und umgekehrt. Die gegenseitige Befremdung muss noch keine Wertung des anderen bedeuten; sie kann genauso Anziehung wie Abstoßung sein. Unübersichtlicher wird es für alle Beteiligten, wenn dann noch die Hardrockfans unter den Philosophinnen und die Briefmarkensammler unter den Bikern auf den Plan treten. Immer häufiger zeigt sich: Stereotype sind auch nicht mehr, was sie mal waren.

Zwei Brüder, Kapstadt

Zwischen Vertrauen und Fremdeln

Jeder ist fremd. Jeder ist anders. Das haben wir immer schon gewusst. Oder hätten es wissen können, wenn wir uns nicht vorzugsweise mit jenen Mitmenschen umgeben würden, die uns gleichen oder zumindest ähneln. Mit denen uns „der gleiche Stallgeruch“ verbindet. Mit denen wir „auf einer Wellenlänge“ funken. Die aus „dem selben Holz“ geschnitzt sind. „Gleich und gleich gesellt sich gern“: Darin liegt die Verheißung von Harmonie, vom Gleichklang der Gemüter, von warmer Geborgenheit in der großen Sippe derer, die ähnlich ticken wie ich.

Doch nun: Fremdes überall. Nicht nur in Städten verdichtet es sich, sondern bis ins kleinste Dorf dringt es vor. In Hautfarben von hellgelb bis tiefschwarz. Im Gewand von Religionen aus Indien und Heilslehren amerikanischer Indianer. In Gestalt von sexuellen Identitäten, die homo, bi, trans und hetero heißen. In Form von Bioarchitekten und Ökotrophologen, von islamischen Fundamentalisten und ghanaischen Fetischpriestern, von Chop Choy, Chicken Wings und Shiitake, von Fajita, Farfalle und Falafel. Diese Auswahl ist natürlich subjektiv, getroffen von jemand, der katholisch erzogen wurde, als Arbeiterkind im fichtenbestandenen Sauerland aufwuchs, dessen Bewohner die Angewohnheit haben, zwischen 20 und 30 ein Haus zu bauen und dann ein Leben lang abzubezahlen – aus der Sicht eines Peul-Nomaden in der Sahelzone ein höchst merkwürdiger Lebensentwurf.

Die Begegnung mit dem Fremden nennt der französische Philosoph Emmanuel Lévinas ein „elementares Ereignis“. Die wichtigste und prägendste Erfahrung, die ein Mensch machen kann. Sie lässt ihn nicht kalt, nicht unberührt. Sie lässt ihn nicht, wie er vorher war – egal, für welche Reaktion er sich entscheidet: Ablehnung, Abwendung oder Zuwendung. Um zu verstehen, welch tief greifende kulturelle Veränderungen sich seit knapp zwei Jahrzehnten vollziehen, ist ein Blick zurück nützlich, in die Anfangszeiten unserer Spezies. Vor 100 000 Jahren zogen die Vorfahren des modernen Menschen in überschaubaren Gruppen durch die Savanne. Sie bestanden aus Familien und Sippen, insgesamt zwischen 30 und 50 Mitglieder. Klein genug, um mobil und flexibel reagieren zu können, aber groß genug, um sich verteidigen zu können und genetisch nicht zu verarmen. Jahrelang wandert diese Horde umher, sammelt Pflanzen und jagt Tiere. Und dann, eines Tages, der große Schock: Sie trifft auf eine andere Horde! Blitzschnell muss sie die Erkenntnis verarbeiten: Wir sind nicht allein auf der Welt. Da sind noch andere. Und diese Anderen sind anders. Urmenschen, die geglaubt hatten, jeden zu kennen, sahen sich plötzlich mit vergleichbaren, aber nicht gleichen Lebewesen konfrontiert. In diesem Moment fand er statt, der interkulturelle Urknall.

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Essay:Das fremde Innen, der Fremde außen

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