Die Zeit des Erwachens

Bei einem Heroinentzug sind die körperlichen Schmerzen nicht das schlimmste. Sondern der Moment, wo das Bewusstsein für die eigene Lage zum ersten Mal seit Jahren wieder unerbittlich klar ist. Ich begleitete neun Junkies durch die Stationen eines Kalten Entzugs, ohne Ersatzdrogen.

Erschienen in der Zürcher Weltwoche

Gleich wird Daniel den Gruppenraum verlassen, wird die ewig knarrende Treppe hinuntersteigen, wird den Weg ins Tal einschlagen und wird schließlich jenen Schritt über die quer verlaufende Regenrinne machen, der unweigerlich den Abbruch bedeutet. Er weiß, daß danach nicht mehr ins Haus zurückkann.

“Es zerreißt mich schier”, flüstert Daniel und macht eine Bewegung, als wolle er seinen Brustkasten aufklappen. Das schmale Gesicht ist weißfleckig, die Augen irren in der Runde umher und suchen Halt in den verschlossenen Gesichtern der anderen. Keiner sagt etwas, aber jeder denkt das gleiche: Wenn ich jetzt mitgehe, bin ich in einer Stunde in Basel und beende dieses elende Frieren, Schwitzen, Reißen und Kotzen mit einem einzigen Schuß Heroin!

Der Gedanke gefällt ihnen. Und sie hassen ihn. Daniel hängt schwer wie ein angezählter Boxer im Sessel und hört sich an, was die anderen ihm mit auf den Weg geben. Matthias sagt: “Schade um dich, bist ein echt lässiger Typ. Du weißt ja genau, wo du landest, wenn du jetzt abhaust.” Danu sagt: “Eines Tages bin ich clean und sehe dich, zugefixt, irgendwo auf der Straße. Das tut mir jetzt schon leid.” Und Achim sagt: “Mir geht das ständige Gerede über Gehen oder Bleiben auf den Geist. Geh’ lieber sofort.”

Einen Entzug machen, endgültig weg von der Spritze, von der Straße, vom Klauen, vom Dealen, vom Dreck: Darüber reden Fixer oft und gerne. Doch nur wenige beginnen wirklich einen Entzug, noch weniger halten ihn durch. In Basel versucht der Verein Drogenhilfe erfolgreich, Junkies den Absprung vom Heroin zu erleichtern. Dessen Fachklinik Cikade bietet 22mal im Jahr einen Entzug an. Sieben bis neun Klienten und vier Thera-peuten haben Platz in einem umgebauten Bauernhaus, “Kleine Marchmatt” getauft und von außen nicht als Klinik zu erkennen. Es steht idyllisch und einsam zwischen Hügeln der Basler Jura, umgeben von Kirschbäumen und dem beruhigenden Klang der Kuhglocken. Und es liegt weit weg von den Bezugsquellen für Heroin.

Ich hatte mich bei der Cikade als “therapeutischer Entzugshelfer” beworben und wurde wegen meiner Erfahrungen in der Jugendarbeit angenommen. Zusammen mit einer Psychotherapeutin, einem Psychologen und einer Sozialpädagogin sollte ich einen der Entzüge betreuen, die 15 Tage dauern. Bevor wir anfingen, war ich äußerst argwöhnisch. Meine Vermutung war, daß Suchthelfer und Süchtige in geheimem Einvernehmen den Entzug als höllischen Gang durchs Fegefeuer dramatisieren. Die einen, um die Schwere ihrer Arbeit bejammern zu dürfen; die anderen, um mit gutem Grund weiterfixen zu können. In Wirklichkeit, so hatte ich gedacht, sei nur so etwas wie eine mittelschwere Grippe zu überstehen, und danach fange ein neues, schöneres Leben an.

An einem Dienstag Nachmittag fuhren wir mit acht Ausstiegswilligen zur Klinik. Es gab Kaffee und Kuchen zur Begrüßung, eine Stimmung wie beim Klassenausflug. Die Einstiche in den Venen waren noch frisch, die Zweifel noch betäubt.

Doch schon am nächsten Morgen begann der große Exodus der Junkies. Jeder von ihnen, der über die Regenrinne im Weg hinwegstieg und damit den Entzug abbrach, nahm ein Stück von meinem Optimismus mit. Kurz nach dem ersten Frühstück verschwand Patrick spurlos. Na gut, tröstete ich mich, der steckte vielleicht noch nicht tief genug im Mist, um wirklich aufhören zu wollen, der war ein wackeliger Kandidat von Anfang an. Sein früher Abgang säte Mißtrauen in der Kleinen Marchmatt. Jeder Junkie dachte: Wer von den anderen könnte mich verführen, mit ihm zurück auf die Straße zu gehen?

Am selben Abend gingen Paul und Barbara weg. Er hatte schon bei der Begrüßung getuschelt, ob jemand Stoff dabei hätte; sie war von einem Drogenberater mehr überredet als überzeugt worden und möchte doch lieber weiterspritzen. Die Sesselrunde im Gruppenraum wurde erneut kleiner. Fünf Fixer beschäftigte eine Frage: Werde ich durchhalten?

Jetzt kippt auch noch Daniel. Der Hübsche. Der Sportliche. Der Hoffnungsträger, der sich in den Vorgesprächen selbst beschworen hat: Ich will aufhören, ich will, ich will! Dem wir die besten Chancen gegeben haben, das auch zu schaffen. Den ganzen zweiten Tag lang ging er eingehüllt in eine rote Bettdecke umher, fror, erbrach sich, hatte Gliederschmerzen. Er erzählte mir, warum er das aushalten wolle: “Es soll alles so werden wie früher. Da bin ich klettern gegangen, Freeclimbing, jeder Muskel muß durchtrainiert sein, verstehst du, ich war sogar in der Skiauswahl der Schweiz, eine richtige Sportskanone, nicht so abgemagert und schlaff wie heute. Mit meinen 21 Jahren fühle ich mich wie ein Greis.” Nach dem Entzug wolle er jedes Wochenende klettern gehen, um gar nicht erst auf falsche Gedanken zu kommen. Er habe sich mit den verbliebenen Freunden, die keine Drogen nehmen, schon fest verabredet. Abends überraschte er uns mit der Ankündigung: “Ich glaube, ich hab’s überstanden.”

In der Nacht hatte ich Dienst. Bei einem Rundgang traf ich ihn an, wie er in seinem Bett unter den Pfauenfedern saß und Lucky Luke las. Er lächelte und machte ein Siegeszeichen, “V” für Victory. Zu diesem Zeitpunkt, erfahre ich später, hatte er seinen Rucksack schon gepackt. Er war nur deshalb bis zum nächsten Morgen geblieben, weil er den anderen versprochen hatte, nicht ohne Abschied zu gehen.

Nicht die Schmerzen treiben ihn fort. Die bringen keinen um, sind vielleicht wirklich mit einer Grippe vergleichbar. Schließlich ist Daniel mit uns gewandert, hat Volleyball gespielt, im Garten gejätet und eine schwere Karre geschoben. Nein, etwas anderes hat ihm panische Angst eingejagt. Seit er 16 war, hat er jedes negative Gefühl - Schmerz, Einsamkeit, die Angst zu versagen - mit Haschisch, Alkohol und Heroin betäubt. Jahrelang hat geschlafen und gedämmert und die Welt ausgeblendet. Den Entzug erlebt er als Schock: als die Zeit des Erwachens.

Es ist, als mache er die plötzlich die Augen auf und sehe mit einem Mal sein verpfuschtes Leben. Die Kindheit bei den Großeltern, weil er außerehelich zur Welt kam; die Angst, von der Mutter im Stich gelassen zu werden, nachdem sie ihn später doch aufgenommen hatte; die Lehre, die er wegen Streit mit dem meister abgebrochen hatte; die Freundin, die ihn wegen seiner Sucht verlassen hatte. Kein Wunder daß er in helle Panik gerät und nur noch ans Zumachen denkt. Die Nadel als Strafe spüren, sich vom Heroin warm und dunkel die Decke über den Kopf ziehen lassen, nichts mehr sehen, wieder einschlafen.

Er liebt diesen Gedanken. Und haßt sich dafür. Er steht auf und gibt jedem die Hand. Mit gesenktem Kopf geht er zur Tür, kurz klingt deren Glockenspiel, danach ist es still im Raum. Daniels weitere Stationen lassen sich leicht rekonstruieren. Um elf ist er in der Geschäftsstelle in Basel, um seinen Personalausweis abzuholen. Eine halbe Stunde später wird er sich vermutlich den ersten Schuß setzen - gespendet von Fixern, die sich ihre Freude, daß es wieder einer nicht geschafft hat, gern ein paar 100 Mark kosten lassen.

Wir stehen in einem engen Kreis und fassen uns an den Händen. So fühlt man sich wohl nach einem Sturm, einer der besten ging über Bord, das Schiff ist gesunken. Übrig bleibt ein jämmerlicher Haufen Gestrandeter auf einer Insel namens Kleine Marchmatt.

Der kalte Entzug. Seit 13 Jahren ist es Konzept der Cikade, die Patienten “kalt”, also ohne Medikamente zu entgiften. Einem Fixer, der im Entzug kein Auge zutut, Schlafmittel zu geben, hieße den Teufel mit dem Belzebub austreiben, ihn von Tabletten abhängig zu machen. Stattdessen werden die körperlichen Entzugssymptome mit Naturheilmitteln gelindert. Die Patienten können sich selbst helfen. Sie brühen einen Brusttee bei Erkältungen auf oder eine Mischung aus Baldrian und Me-lisse bei Schlaflosigkeit. Mit kalten Wickeln bekämpfen die Therapeuten das höllische Schwitzen, mit Massagen verspannte Muskeln. Und die Sauna hilft gegen das große Zittern.

Gartenarbeit, Spaziergänge, Landleben. Die Cikade schafft einen Kontrast zum stressigen, hektischen Treiben und Getriebensein in der Großstadtgosse. Decken und Wände der ehemaligen Bauernkate sind mit Holz verkleidet, auf dem Boden liegen Teppiche, über den Sofas bunte Decken. Die drei Katzen des Hauses haben schon mindestens 50 Entzüge absolviert, sind allerdings immer noch nicht sauber.

Die Rezeptur aus idyllischer Lage und strengen Regeln - keine Drogen, keine Musik aus der Steckdose, kein Sex, kein Fernseher, keine Außenkontakte - erinnert an ein Kloster. Doch die Erfolgszahlen sind durchaus von dieser Welt. In der Cikade halten 65 Prozent der Patienten den Entzug bis zum Ende durch. In diesem harten Geschäft eine gute Bilanz.

Entscheidend für das Gelingen ist die Gruppe. Das “Reißen” muß nicht allein durchlitten werden, und schon oft hat der Zusammenhalt der Klienten einen, der auf der Kippe stand, im Haus gehalten. Doch trotz dreier Vorgespräche, die jeder absolvieren muß, bleibt der menschliche Faktor die große Unbekannte. Die Kleine Marchmatt gleicht einem Labor, die Gruppe einem Reagenzglas, in das verschiedene Zutaten einfließen, die auf überraschende Weise miteinander reagieren. Immer ist die Frage: Wer geht? Und wer bleibt und hält durch?

Am Freitagmorgen platzt Achim, mit 34 Jahren der älteste der vier Verbliebenen, in die morgendliche Teambesprechung. “Es gibt da ein Problem. Wir wollen alle gehen.” Die wievielte Krise innerhalb von zwei Tagen ist das jetzt? Wir Entzugshelfer sind nach diesem Nervenstreß fast genauso fertig wie die Klienten. Oben im Gruppenraum erwarten sie uns. Matthias und Danu machen Gesichter, daß die Milch sauer wird, Achim macht gar keins, Christoph hat seinen Blick auf Unendlich gestellt. Meine Kollegin Sarani hört auf jede ihrer Fragen nur: “Mir ist sau-elend.” Draußen läuten die Kuhglocken.

Sarani läßt sich nicht entmutigen und schlägt eine Übung vor. Alle rennen herum, springen hoch, stampfen auf den Boden, schreien und schütteln ihren Frust heraus. Sieht aus wie eine Horde Neandertaler beim Ritualtanz, aber es wirkt. Entspannt legen sich die vier auf der Rücken, schließen die Augen. Sie folgen Sarani auf eine Gedankenreise. Der Fantasietrip führt sie zurück ins Alter von fünf, zehn, 15 und 20 Jahren, zu Situationen, wo sie besonders glücklich und zufrieden waren. Ein verzweifelter Versuch. Die Kraft schöner Bilder soll die Gruppe aus ihrer Verzweiflung reißen.

Der Trick gelingt. Draußen läuten immer noch die Kuhglocken, drinnen hat sich die Lage völlig verändert. Matthias und Danu haben weiche Ge-sichter, beide sagen dasselbe: “Selbst wenn jetzt alle gingen, ich bliebe hier.” Später meinen sie, allein diese Reise in die Vergangenheit habe sie gerettet.

Christoph jedoch schluchzt, hat Tränen in den Augen. Er hat in den 26 Jahren seines Lebens kein einziges glückliches, tröstliches Erlebnis aufstöbern können. Nachdem er sich ausgeweint hat, sagt aber auch er, es gehe ihm wieder gut.

Nur Achim mault: “Das bringt doch alles nichts.” Er war vor einem Jahr schon einmal in der Cikade, stürzte aber nach dem erfolgreichen Entzug wieder ab. Jetzt stellt sich heraus, daß Achim in seinen durchwachten Nächten die anderen gegen das Team aufgebracht, ihnen vom Abhauen vorgeschwärmt hat. Langsam dämmert uns, welch unheilvollen Einfluß er, die Macht der Nacht, auf die Gruppe ausübt.

Zuletzt hat er drei Gramm Heroin am Tag geraucht, dazu Haschisch, Kokain und Amphetamin genommen. Zusammen sind das Drogen für monatlich 25000 Mark, eine Summe, die er durch Dealen verdiente. Mir drängt sich ein Krimimotiv in den Sinn: Die Basler Szene schickt einen ihrer Großen in den Entzug, um ihn scheitern zu lassen und, ganz nebenbei, neue Kundenkontakte zu knüpfen. Wir ringen uns dazu durch, ihn nach Hause zu schicken, um die anderen drei halten zu können.

Während wir noch mit Achim diskutieren, ist plötzlich Christoph verschwunden. Seine Sachen liegen noch im Zimmer, sonst keine Spur von ihm. Sechs Stunden später taucht er wieder vor dem Haus auf. Er sei in Basel gewesen, ob wir ihn nicht wieder aufnehmen könnten? fragt er, Tränen in den Augen. Nach kurzer Diskussion ist sich das Team einig: Keine Chance. Auf der Straße würde sich in Windeseile herumsprechen, daß man von der Cikade aus kleine Ausflüge unternehmen darf. Das würde das Ende der Entzüge bedeuten.

Für Christoph ist dieser Entzug der zweite Anlauf. Er hatte sich für die Zeit danach soviel vorgenommen. Als gelernter Gärtner wollte er mit einem Freund ein kleines Unternehmen aufmachen, mit Hilfe einer ambulanten Therapie drogenfrei bleiben. Alles dahin. Er sitzt noch eine Stunde lang auf einem Stein vor dem Haus, den Kopf auf die Knie gelegt, und weint. Wir können ihn vom Büro aus sehen. Sein Anblick muntert nicht gerade auf.

Welch ein gigantischer Aufwand an Zeit, Geld und Nerven wird getrieben, um wenigstens ein paar aus der Masse der Fixer durchzubringen! Ein Heer von Sozialarbeitern, Streetworkern, Polizisten, Psychiatern, Justizbeamten, Entzugshelfern und Therapeuten bedient angestrengt einen Apparat, der am Ende drogenfreie Menschen ausspucken soll. Doch die große Waschmaschine, die clean macht, bleibt ein naiver Wunsch. Er beruht auf dem gleichen Willen zu Leistung und technischer Perfektion, der westliche Industrienationen auszeichnet und letztlich so viele Menschen den Süchten zutreibt: Alkohol, Spiel, Tabletten, Sex, Nikotin, Arbeit.

Fixer sind meist besonders gespürig veranlagt. Sie reagieren sensibel auf das Chaos in ihren Familien. Erst mit kleinen Fluchten, Haschisch mit 15, dann mit der großen Flucht, Heroin ab 17 und bis zum bitteren Ende. Die Lebensläufe der Cikade-Klienten weisen immer die gleichen Stichworte auf: Scheidung, einer der Eltern Alkoholiker, Prügel, aufgewachsen bei Verwandten oder im Heim. Viele Fixerinnen sind in ihrer Kindheit sexuell mißbraucht worden, von Vater, Stiefvater oder Onkel.

Aber auch “gute Familien” treiben ihre Kinder auf die Straße. Von klein an bläuen sie ihnen ein, daß sie mindestens Olympiasieger, Nobelpreisträger oder Bundeskanzler zu werden haben. Die Angst zu versagen oder ein tatsächlicher Ausrutscher auf der Karriereleiter im Kinder-zimmer läßt sie ihr Heil in der Sucht suchen. Nicht Rausch und Ekstase sind die Gründe für den massenhaften Drogenkonsum, sondern Flucht und Verdrängung. Der Reparaturbetrieb namens Drogenhilfe ku¬riert nicht die Krankheit, sondern ein paar Symptome, mehr schlecht als recht und - wie im übrigen Gesundheitswesen - mit explodierenden Kosten.

Nach der ersten stürmischen Woche gibt es in der Cikade nur zwei, die ausharren, Matthias und Danu. Die zweite Woche vergeht entspannter. Es verfliegt die ständige Befürchtung verfliegt, morgens aufzuwachen und das Haus leer vorzufinden. Wir gehen wandern und schwimmen, experimentieren mit meinen Kameras herum oder klauen Kirschen. Die beiden bereiten den Abschied von ihren Familien vor. Schweren Herzens haben sie sich entschieden, ein Jahr lang in eine therapeutisch betreute Wohngemeinschaft mit anderen ehemaligen Junkies zu ziehen. Dort haben sie immerhin eine 50prozentige Chance, clean zu bleiben. Gingen sie nach Hause zurück, hätten fast die Garantie, wieder abzustürzen.

Warum gerade diese beiden, habe ich oft überlegt, warum nicht Barbara, Christoph oder Achim? Weshalb hatte Danu die Kraft durchzuhalten, Danu mit den stets fettigen Haaren und der bedrohlichen Tigertätowierung an der Schulter? Vielleicht wegen dieser einen Szene im Gruppenraum, als ihm die versammelte Runde bestätigte, er sei ein sympathischer, umgänglicher Mensch. Er hatte sich im Sessel aufgerich¬tet und völlig verständnislos geguckt “Dabei hat man mir immer gesagt, ich bin sei ein Scheißtyp.

Im Familientheater hatte man ihm die Rolle als Prügelknabe zugeschrieben. Der Vater schrie, wenn er getrunken war, voller Wut: “Ich hätte besser in die Wiese gewichst, als dich zu zeugen.” Die magersüchtige Mutter, gerade noch 35 Kilogramm wiegend, brauchte Danu als jemand, dem es noch schlechter ging als ihr. Auch die Mitschüler kamen in Reimen wie “Imhof - immer doof” auf ihre Kosten. Er schlug mit den Fäusten zurück. Er rauchte Hasch, “um endlich meine Ruhe zu haben”. Beim Militär begann er, regelmäßig zu spritzen. Die Kameraden besorgten den Nachschub. “Von 50 Männern in unserem Zug”, erinnert er sich, “haben 48 irgendwelche Drogen genommen”. Endlich einmal gehörte er irgendwo dazu.

Nach der Rekrutenschule war er arbeitslos, finanzierte sein Heroin durch Jobs als Hilfsarbeiter. Beim Abendessen erzählt er Matthias, daß er sich zuletzt nur noch von Spaghetti ernährt habe. Mit Tomatensauce? “Nein, mit Gewürzen.” Welchen Gewürzen? “Na, mit Salz.” Auf der Kleinen Marchmatt nimmt er sieben Kilo zu, sein Gesicht wird runder, er wäscht sich täglich die Haare. Wer weiß, vielleicht ist er ja auch nur wegen des guten Essens geblieben.

Wenn nur ein einziger durchhält, habe ich zwei Wochen lang gedacht, dann hat sich der ganze Nervenkrieg gelohnt. Jetzt sind es sogar zwei, das reicht ja fast für ein Happy End. Von meinem Zimmer aus sehe ich auf den Weg herab. So ein Bauernweg, zwei braune Linien außen und eine grüne in der Mitte. Genau 27 Schritte von der Haustür verläuft die Regenrinne quer über den Weg. Sie gilt nach den Cikade-Regeln als Grenze zwischen Durchhalten oder Abbrechen. Ich denke an diejenigen, die sie überschritten. Manchmal gingen sie den Weg nachts, manchmal heimlich am Tag. Oft in Panik und von Krämpfen geschüttelt, stets begleitet von dem Fixer in ihren Köpfen. Der Weg führt ins Tal, nach unten.

Ich war nie süchtig. Einem wie mir fällt es leicht, ihn den Weg des geringsten Widerstands zu nennen.