Flashbacks. Der Horror wohnt in den Köpfen

Ein Traumazentrum in Tripolis versucht, die seelischen Wunden des Krieges bei Kindern und Jugendlichen zu heilen.

Erschienen in chrismon plus, 3/2014; ausgezeichnet mit dem Journalistenpreis Andere Zeiten

Film ab. Feras sitzt am Steuer. Auf dem Beifahrersitz sein Freund; er blutet aus einer Schusswunde in der Wade. Hinten im Fond der Gefangene. Bewacht vom dritten Freund, mit vorgehaltener Pistole. Sie rasen durch die Straßen. Tripolis, mit mehr als 100 Stundenkilometern. Hinter ihnen das Auto der Verfolger. Sie schießen auf den Wagen mit dem Gefangenen. Eine Hand für die Pistole, eine am Steuer, schießt Feras zurück. Sein Auto kommt ins Schleudern, rast auf die linke Straßenseite zu. zu. Filmriss. Dann liegt da dieser Mann. Vor einer Apotheke. Tot. Ein Schuss in die Brust. Später stellt sich heraus: ein entfernter Onkel. Feras sieht nur noch das kräftige Rinnsal des Blutes, den Bordstein herunter. Dann beginnt alles von vorn. Feras sitzt am Steuer. Auf dem Beifahrersitz sein verletzter Freund…!

Ein Horrorfilm in Endlosschleife. Und nur einen Zuschauer. Der kann nicht fassen, was er sieht. Feras, 26, der Jura studiert hat und gerne ein erfolgreicher Autoverkäufer werden möchte. Feras, mit kräftigen Unterarmen und weichen Augen, die er senkt, wenn er erzählt. In seinem Kopf spult er die Sequenz ab, immer wieder. Nicht weil er sie mag. Im Gegenteil. Schuld und Scham quälen ihn. Da liegt der Onkel, da ist die Blutlache. Erschossen. Hat er ihn erschossen? Aus Versehen? Hat er seinen Onkel aus Versehen getötet? Schande, hat er Schande auf sich geladen?!

Haschisch hilft. Feras raucht. Das löscht die Bilder zwar nicht. Aber sie interessieren ihn in diesen Momenten nicht. Egal, was geschah. Was soll´s. Passiert ist passiert. Wenn der Rausch weicht, sind die Bilder wieder da. Auf wenig kann er sich verlassen. Darauf ganz sicher!

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Flashbacks nennt die Traumamedizin, worunter Feras leidet. Ein Erlebnis sprengt das Fassungsvermögen der Psyche. Zu viel, zu gewaltig, zu verstörend. Deshalb kehrt die Erinnerung immer wieder zu diesem Punkt zurück. Friert dort als Standbild ein. Wie ein ruheloser Sucher nach Erlösung, der jedes Mal doch nur wieder in der Selbstanklage landet.

Zwei Jahre ist die Verfolgungsjagd durch die libysche Hauptstadt her. Dass Feras überhaupt weiß, was ein Flashback ist und was er seelisch anrichtet, verdankt er Nayla, seiner Psychologin im Libya Youth Center (LYC). Offiziell arbeitet sie in einem ganz normalen Jugendzentrum. Es gehe um Persönlichkeitsentwicklung, steht auf der Facebook-Seite. In Wirklichkeit ist das LYC das einzige Traumazentrum in Libyen. Trauma ist Tabu in einer Gesellschaft, die den Patriarchen verehrt, das Starke, den Krieger. Schwachsein ist fast dasselbe wie Schwachsinn. Trauma-Geschädigte, die sich dazu bekennen, würden von ihrer Familie wie Verrückte behandelt, sagt Nayla. Also verschweigen sie besser, was sie im Bürgerkrieg von 2011 erlebt haben.

Krieg verstört. Die Abendnachrichten zeigen uns eine Art Totale, die den Zuschauer schont. Die Nahaufnahmen, aufgenommen von den Augen der Menschen mittendrin, sind quälender. Die Schwester, die auf der Straße von Gaddafis Soldaten entführt wird; die verquollenen Gesichter eines Folteropfers; ein naher Freund, der vor den eigenen Augen von einer Granate zerrissen wird. Diese Filme sind nur für die Betroffenen sichtbar. Ihre Erinnerung verwandelt sich in eine Kammer des Schreckens. Äußerlich spielt man Normalität. Beim Mokka im Café reicht jemand sein Smartphone rüber. Es läuft ein Clip, in dem ein Soldat einem gefangenen Revolutionär den Kopf abtrennt. Mit einem Messer. Er schlachtet ihn, so wie man Ziegen schächtet. Ein anderer Soldat hat die Szene aufgenommen; als er getötet wurde, nahmen Millizionäre ihm auch das Handy mit der Aufnahme ab. Junge Männer in Libyen haben massenhaft solche Filme auf ihren Handys. „Zeig mir ein schreckliches Video, dann zeig ich dir ein noch schrecklicheres.“ Gestohlene Traumata. Hilflose Versuche der Bewältigung. Aber Coolness beendet nicht die Horrorshow im Kopfkino.

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Bewegungsspiele für traumatisierte Kinder

Im Krieg vor zwei Jahren, in dem Feras gekämpft hat, ging es nicht gegen äußere Feinde. Die Revolution gegen den Diktator Muammar al-Gaddafi schnitt ihre Fronten quer durch Familien, Firmen, Fußballmannschaften. Einst gut gelittene Nachbarn wurden zu verhassten Gegnern, Studenten bewaffneten sich mit Granatwerfern, reguläre Soldaten wurden zu Killern, die auf Zivilisten schossen. Mehr als 40 Jahre Diktatur, Bespitzung und Willkür würden ausreichen, um eine ganze Gesellschaft zu verstören. In Libyen kam ein blutiger Bürgerkrieg dazu, spaltete das Land und zerriss innerlich die Menschen. Niemand traut dem anderen. Viele Offene Rechnungen. Und zu viele offene Wunden.

Und was heilt? Mit dem LYC ist ein friedlicher, fröhlicher Ort entstanden, mitten in Tripolis. Nahe dem vielgefahrenen Quadesia-Kreisverkehr gelegen, betritt man eine Ruheoase, wenn man durch das Eingangstor tritt. Dahinter liegt in hellbeiges, villenartiges Gebäude. Im Garten ist vom Autoverkehr nur noch ein Rauschen zu hören. Auf den Rasenflächen, die von schützenden Mauern eingefasst sind, toben Jungen und Mädchen herum. Ein Refugium, wenn auch nur für wenige. 400 Kinder und Jugendliche dürfen pro Saison kommen. „Dabei ist diese ganze Gesellschaft schwer traumatisiert“, sagt Nayla. Sonst geradezu professionell optimistisch, wirkt sie einen Moment lang bedrückt. Sie stammt aus dem Libanon, hat mit ihren 32 Jahren vier Kriege erlebt und schreckt immer noch zusammen, wenn geheiratet wird. In Tripolis werden viele Hochzeiten gefeiert, und Kalaschnikows gen Himmel abzufeuern gilt dabei wieder als chic.

Ihre Herkunft sieht sie als Vorteil. „Libyer trauen ihren Landsleuten nicht“, sagt Nayla, „mir als Libanesin öffnen sie sich leichter. Und sie wissen, dass ich verstehe, was sie durchgemacht habe.“ Die unverdächtig klingenden Freizeitangebote bilden den Rahmen, in dem die Psychologen des Zentrums seelische Störungen leicht erkennen und unauffällig behandeln können, ohne dass Familien oder Nachbarn davon erfahren.

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Arbeit mit kriegstraumatisierten Kindern

Feras war eines Tages im Zentrum aufgetaucht. Mit der Mission, seine Schwester da rauszuholen. Sie nahm seit einigen Wochen an den Programmen teil. Zuhause hatte sie Sachen erzählt, die in Feras’ Ohren merkwürdig klangen. Selbsterfahrung. Rollenspiele. Seine Traumschule malen. Capoeira, die brasilianische Kampfkunst. Über Drogen diskutieren. Vor allem aber eigene Lebensziele und Zukunftsvisionen entwickeln – skandalös in einem Land, wo die Eltern die Lebenswege der Kinder bis ins Kleinste bestimmen. Und, man stelle sich vor, das Ganze in gemischten Gruppen, Jungen und Mädchen, in einem Raum zusammen!

Im Auftrag der Eltern betrat er mit klopfendem Herzen, aber fest entschlossen das Zentrum. Eine Pädagogin lud ihn ein. Er solle doch einen Nachmittag lang teilnehmen. Und dann entscheiden, ob der Schwester der Besuch verboten wird. Feras nahm teil. Und blieb. Er hat seitdem keinen Gruppennachmittag verpasst. „Ich fühle mich hier sicher“, sagt er. „Am Anfang fand ich es unfassbar, dass sich die Betreuer zu freuen schienen, allein weil ich da war. Mittlerweile weiß ich: Ihre Freude ist echt. Ich fühle mich einfach nur willkommen.“ Vertrauensbildend wirkt auch, dass sich das Zentrum politisch streng neutral hält. Nicht mal Begriffe wie „Bürgerkrieg“ oder „Revolution“ werden verwendet, weil sie eine Wertung enthalten. Jugendliche aus Pro-Gaddafi-Familien sitzen neben ehemaligen Freiheitskämpfern.

Als besonders heilsam erlebt Feras etwas, was angesichts der kulturellen Traditionen als mittlere Sensation gelten muss: Wertschätzung. In Libyen werden Kinder fast nie gelobt. Fordert man sie auf, in Rollenspielen Erwachsene zu imitieren, stellen sie immer gleiche Charaktere nach: den Lehrer, der Schüler schreiend stramm stehen lässt; Mütter, deren Lieblingsseufzer „chayatouli rigi“ lautet: „Ihr macht mich krank“; Väter, die mit dem Stock auf die Hände schlagen. Nayla hat mit vielen Eltern gesprochen, erlebt sie in ihrer Gewalttätigkeit vor allem als hilflos: „Ihre Devise ist: Man muss den Willen der Kinder brechen, damit sie einem nicht über den Kopf wachsen.“ Einmal kam eine Mutter zu ihr und beklagte sich, ihr 16-jähriger Sohn sei so kontaktarm, ob man da nicht was machen könnte? Als die Psychologin ein wenig nachfragte, kam heraus: Der Mutter war ihr Kleiner schon früh zu viel gewesen, zu ruhelos, zu lebendig. Sie hatte ihn tagelang in eine enge hölzerne Box gesperrt. Das habe geholfen. „Die konnte sich gar nicht vorstellen, was das mit seinem gestörten Sozialverhalten zu tun haben könnte.“

Die so Gedemütigten ducken sich. Beißen die Zähne zusammen. Und warten auf den Tag der Rache. Die Revolution gegen den Diktator Gaddafi war auch eine Auflehnung gegen das strenge Regime des Patriarchats in Libyen. Viel Hass gegen die Alten hatte sich bei den Jungen aufgestaut. Wie exotisch mutet in einer solchen Kultur ein Lob an. Und im Zentrum wird eifrig gelobt und gedankt. Für ein gemaltes Bild. Ein Foto auf Facebook. Die Offenheit bei einer Diskussion über Drogenprobleme. Jede gesungene Strophe der Kleinen, die gerade im Musikzimmer im Souterrain proben, wird mit einem Stern belohnt. Bei zehn Sternen dürfen sie ihr Lieblingsspiel aussuchen. Die Anerkennung tut ihnen sichtbar gut. Ihre Augen strahlen, Begeisterung treibt sie an, weiter zu machen.

Feras genoss diese Atmosphäre von Anfang an. Langsam fasste er Vertrauen zu Nayla. Er willigte ein, Einzelsitzungen zu nehmen. Das Zentrum empfiehlt sie allen, die vor zwei Jahren an bewaffneten Kämpfen teilgenommen haben. „Die meisten von ihnen leiden unter posttraumatischen Belastungsstörungen“, sagt Nayla. Die Symptome reichen von Schlaflosigkeit über mangelnden Antrieb bis hin zu Panikattacken.

Angeleitet von der Psychologin, beginnt Feras mit mühsamer Detektivarbeit in der eigenen Erinnerung. Jedes Detail an jenem Tag, als er im Auto durch Tripolis raste, könnte der Schlüssel sein, um das Trauma aufzulösen. Welche Farbe hatte das Verfolgerauto? Mit welcher Waffe hat er geschossen? Wie konnte er gleichzeitig steuern und schießen? Welche Kleidung trug der Onkel, der tot auf dem Bürgersteig lag? Sein Film wird bewusst rekonstruiert. Nayla kann beobachten, wie bei jedem Durchgang der Angstpegel ein wenig sinkt.

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Zwei junge ex-Frontkämpfer im LYC

Eines Tages, als die Rekonstruktion komplett ist, wird klar: Der tödliche Schuss an jenem Tag muss von einem der Verfolger abgegeben worden sein. Feras kann nicht der Schütze gewesen sein. „Ich fühlte mich, als hätte man einen Schweren Stein von meiner Schulter genommen“, beschreibt er das Gefühl nach diesem Durchbruch. Dennoch, ein letzter Zweifel bleibt. Nach der letzten Sitzung mit Nayla geht er, der gläubige Muslim, zum Imam seiner Moschee. Der Geistliche hört sich die Geschichte an und bestätigt ihm: „Du trägst keine Schuld.“ Seitdem ist die Erinnerung an jenen Tag zwar noch wach. Aber Angst und Scham können sich nicht mehr dranhängen. Er braucht das Kiffen nicht mehr, um die Bilder in seinem Kopf aus sicherer Distanz zu betrachten. Feras ist auf gutem Weg. Nur seine Finger, die nervös am Autoschlüssel nesteln, während er das erzählt, verraten seine innere Spannung Er befürchtet, die Flashbacks könnten zurückkommen, und der Horror begänne erneut.

Die Idee zum Libya Youth Center als einer friedlichen Oase entstand mitten im Krieg. Die Führung des österreichischern Öl-Konzerns OMV, seit Jahrzehnten im Lande tätig, erkannte: Die Traumata, die jetzt entstehen, müssen geheilt werden. Sonst bliebe das „neue Libyen.“, für das die Revolutionäre kämpften, eine Illusion. Kaum war der Sieg über Gaddafi errungen, im Dezember 2011, wurde das Zentrum eröffnet und dem Hilfswerk Austria zur fachlichen Betreuung übergeben. Als erstes hob man die Altersgrenze auf 25 an, um die „Freedom Fighters“ einzubeziehen, die jungen Männer der Revolution mit schlimmsten seelischen Verwundungen.

Aber auch die Kleinen können nicht verkraften, was sie im Krieg vor der Haustür erlebten. Was hat Khalifa gesehen? Alle stehen im Kreis. Der elfjährige springt in die Mitte. Wälzt sich auf dem Boden. Ein kurzer Blick in die Runde: Schauen die anderen auch? Dann hüpft er zurück. Nach dem Singen liegen alle auf dem Rücken und atmen eine Entspannungsübung. Khalifa knufft den Jungen neben ihm. Er schlägt sich auf die Brust. Rauft sich die Haare. Rennt durch den Raum. In jeder anderen Kita wäre er das Enfant terrible, mit dem niemand spielen will. „Kinder wie Khalifa brauchen das Zentrum besonders dringend“, sagt der Betreuer Sala. Sein Gespür für die inneren Welten der Kinder zeigt er, indem er sie in einen Rhythmus von Aktion und Entspannung versetzt. Mit einem Wasserspiel draußen auf dem Rasen öffnet er rechtzeitig das Ventil, durch das überschüssige Kräfte rauskönnen, bevor sie zu aggressiver Gewalt werden.

Khalifa war neun, als der Krieg ausbrach. Eines Tages, kurz nach dem Mittagessen, wurde die Tür aufgerissen. Viele gestikulierende Männer stürzten in die Wohnung. Sie hatten eine Leiche dabei, das weiße T-Shirt blutgetränkt. Der Tote war Khalifas älterer Bruder. Er hatte in der Nähe von Tripolis an der Front gekämpft. Wie wird Khalifa diesen Film wieder los?

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Arbeit mit kriegstraumatisierten Kindern

Die inneren Bilder müssen sichtbar werden. Und liebevoll gesehen werden. Manchmal hilft es, sie zu malen. Heute ist das Thema „Was wäre mein schönstes Geburtsgeschenk?“ Ein Junge zeichnet einen Panzer, der über und über farbigen Schokodrops beklebt ist. Ein anderer wünscht sich ein ganzes Waffenarsenal, von der Pistole zur Panzerfaust, mit exakter Typenbezeichnung. Auf einem Bild ist eine Schießerei zwischen zwei Straßengangs zu sehen, die Menschen als Strichmännchen, die Waffen naturgetreu, dazu hat ein Mädchen seinen Wunsch notiert: „Abends keine Schießereien mehr“. Ein älterer Teilnehmer hat ein Foto von zuhause mitgebracht. Sein fünfjähriger Bruder liegt halb eingegraben im Sand, die Augen geschlossen. Daneben seine Schwester, in Trauerhaltung. Woanders wird Vater-Mutter-Kind gespielt, um Rollen einzuüben. In Libyen ist „Märtyrer und Witwe“ beliebt. Kriege stehlen Kindheiten. „Vielen Heranwachsenden fehlt die Unbekümmertheit “, beobachtet Nayla. Schon Zehnjährige würden gedrillt, sich wie Erwachsene zu verhalten. Diszipliniert, wichtig tuend. Die Jungs beginnen, ihre Schwestern herumzukommandieren. Die Mädel machen auf züchtige Hausfrau. Das freie Spielen bleibt auf der Strecke. Die Kraft, sich immer neue Welten auszudenken. Wenn Nayla im Kindergarten im heimatlichen Beirut die Kleinen fragte, was der Bleistift in ihrer Hand alles sein könnte, dann kam: Zauberstab, Mondrakete, Essstäbchen…. Wenn sie diesen Test im LYC macht, sagen die Kinder: Das ist und bleibt ein Bleistift. Erst nach Wochen im Zentrum wird Fantasie wach. Zaghaft beginnt der Stift zu fliegen.

Ein Programmzyklus im Zentrum dauert neun Monate. Die Heilung von Traumata, die es eigentlich nicht geben darf, läuft immer mit, in Gruppen- und Einzelsitzungen, die nicht Therapie heißen dürfen. Das wichtigste Ziel der knapp 20 Sozialarbeiter, Animateure und Psychologen ist es, Kinder und Jugendliche zu ermutigen, eine eigene Vorstellung von ihrem Leben zu entwickeln. Eine, die begeistert, die mit persönlichen Talenten zu tun hat. Sie sind sich bewusst, wie spektakulär diese Herangehensweise mit Tradition und Trott einer besonders konservativen Gesellschaft bricht. „Man könnte uns das Wer-bin-ich-und-was-will-ich Zentrum nennen“, sagt Lamya Karkour, die Programmleiterin. Sinnfragen zu stellen, sind die Teilnehmer nicht gewohnt. Nach dem Bürgerkrieg ist die Orientierungslosigkeit vieler junger Menschen besonders groß. Sie lassen sich treiben. Die jungen Männer hängen in den Cafés ab, die jungen Frauen zuhause vor Fernseher oder Computer. Andere Freizeitangebote sind selten. Gute Jobs auch.

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Mahmoud (Mitte) hat an der Front gekämpft, heute engagiert er sich im Jugendzentrum

Nicht selten entlädt sich der Frust in Schlägereien, die zu Schießereien ausarten. Kleinkriege aus Langeweile. Waffen sind schnell zur Hand. Kaum jemand hat sie nach Kriegsende abgegeben. Lamya erinnert sich, wie sie mit Kindern eine Wand in der Nähe des Zentrums bemalte, als ein Feuergefecht begann. „Ich dachte, dass die Kids jetzt komplett ausrasten. Aber nichts da. Ich konnte sie in Ruhe einsammeln und zurückbringen. Ich konnte kaum glauben, wie unbeteiligt sie reagierten.“

Trauma heißt Wunde. Nicht nur körperliche Verletzungen wollen geheilt werden. Auch seelische, vielleicht sogar noch dringender. Sonst bleiben Rachsucht, Aggression und die Abwertung anderer die beherrschenden Gefühle. In einzelnen Menschen, in ganzen Gesellschaften. Aus Ländern wie Israel und Palästina, die über Jahrzehnte einen Bürgerkrieg erleben, weiß man, dass die Fallzahlen von häuslicher Gewalt, sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung deutlich höher als vergleichbaren Ländern ohne kriegerische Vorgeschichte sind. Versöhnung ist auf Dauer nur möglich, wenn erlittener Schmerz sichtbar werden darf, wenn Leiden anerkannt wird.

Wer das Libya Youth Center betritt, sieht von zunächst nichts von Schmerz und Trauma. Kinder flanieren unbeschwert durch die Gänge, im Souterrain wird getanzt, im Garten trainieren Jugendliche Kampfkunst, im Erdgeschoss bilden Zwölfjährige einen Kreis um das Keyboard stehend und erfinden eine Hymne auf die Schule ihrer Träume. Ein ganz normales Jugendzentrum, jedenfalls nach europäischen Maßstäben. Wenn man die Teilnehmer jedoch länger beobachtet, wird das Ausmaß innerer Verwundungen ahnbar. Nayla zählt die Symptome auf, an denen sie die Spätfolgen der Traumata erkennt: „Die Kids reißen sich die Haare aus, ritzen sich, leiden unter Schlaflosigkeit, können sich kaum konzentrieren, schlagen beim geringsten Anlass zu.“

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Mahmoud (rechts) mit Freunden in einem Café in Tripolis

Außen fröhlich, innen ist es dunkel. Wie bei Mahmoud. Der 24jährige hat den ersten Programmzyklus im Zentrum absolviert. Mittlerweile assistiert er, betreut Kindergruppen ehrenamtlich. Ein gutaussehender Typ, auf dessen ebenmäßigem, bronzefarbenen Gesicht immer ein verschmitztes Lächeln spielt. Wenn er im Gespräch nach einer englischen Vokabel sucht, zieht er die Nase kraus, was ihm etwas Kindliches, Unschuldiges verleiht. Nur manchmal ist ein bitterer Zug um die Augen herum erkennbar. Mahmoud fragt, ob er mal ein paar der Videos zeigen solle. Von vor zwei Jahren. Gefilmt mit Handys von ihm und seinen Freunden. Er klappt seinen Laptop auf und tauchte mit einem Mal in einen Kriegsfilm ein. „Hier kämpfen wir eine Straße in Sirte frei,“ kommentiert er einen Clip, mehr beflissen als berührt, „wir versuchen, den Panzer zu knacken, der hier rückwärts fährt. Der gehört zu Gaddafis Leuten. Wir haben ihn mit einer Panzerfaust erledigt, mit einem guten Schuss.“ Stolz schwingt mit, seine Stimme ist erregt. Auf den verwackelten Handy-Aufnahmen sind er und seine Freunde aus Tripolis zu sehen. Sie tragen T-Shirts, Bermuda-Shorts und Turnschuhe. Sie sehen aus wie Jugendliche, die in ein Ferienlager fahren, damals im Frühjahr 2011, als sie in den Krieg gezogen.

Einige fuhren direkt aus dem Hörsaal an die Front. Mahmoud studierte Lebensmitteltechnologie. Kolibakterien waren sein Thema. Die Waffen haben er und seine Kommilitonen sich selbst gekauft. „Ich fand eine FN Riffle klasse, ein britisches Modell, die liegt gut in der Hand“. Die handwerklich Geschickten unter ihnen schweißten so lange an einem Geländewagen rum, bis er eine Maschinengewehr Lafette tragen konnte.

Ein anderes Video, junge Männer grinsen in die Kamera, machen das V-Zeichen, Victory, Sieg. Mahmoud erklärt: „Der hier war mein bester Freund, den hat später ein Granatsplitter getötet. Und dem hier haben sie das rechte Bein amputiert. Dieser da ist tot, dieser auch.“ Ja, traurig ist er auch, die Gefährten verloren zu haben. Aber sie sind als Märtyrer gestorben, sagt Mahmoud, „das macht es mir leichter“.

Was hat ihn an die Front gezogen? „Da war echte Action. Der Lärm der Schüsse, die Panzer, die Angst. Was mich genau fasziniert hat, kann ich nicht sagen. Das waren einfach krasse Gefühle, die meinen Körper durchströmten.“ Die Intensität des Lebens in der Nähe des Todes, so klingt es. „Ich verliebte mich in den Krieg“, so erklärt es Mahmoud.

Nach dem Sieg der Revolution kehrt er heim. Zunächst ist seine Familie stolz auf ihren Erstgeborenen, auf den Krieger, den Tapferen. Doch mit der Zeit fällt sein aggressives Verhalten auf. Bei einem Streit mit Freund zückt er eine Pistole, der Schuss geht in den Boden, zum Glück. „In der Familie galt ich plötzlich als ‚al-damwi’, als blutrünstig.“ Er selbst kann das nicht glauben. „Ich hielt mich für nervös, ja, aber das ist doch normal, das waren meine Freunde, die von der Front kamen, auch.“ Er hört vom Zentrum, bewirbt sich und wird aufgenommen. Bei einer der ersten Übungen geht es darum, einen Quadranten zu zeichnen. Vier Felder, über sich, seine Ziele, seine Schwächen, seine Stärken. „Eigentlich einfache Fragen. Sie haben mich zum ersten Mal dazu gebracht, über mich nachzudenken.“ Seine Stärken? „Ich komme mit allen Leuten gut aus, auch mit schwierigen.“ Seine Schwächen? „Manchmal aufbrausend.“ Psychologische Beratung, da war er sich sicher, brauche er nicht.

Dann passiert etwas, das er sich bis heute nicht erklären kann. Oktober 2012. Er nimmt schon länger an den Programmen des Zentrums teil, als sich die Stadt Bani Walid, südöstlich von Tripolis gelegen, gegen die Übergangsregierung erhebt. Mahmoud ist wütend. Die Revolution scheint in Gefahr. Alles, wofür er gekämpft hat, könnte auf dem Spiel stehen. Er ringt mit sich. Seine Mutter bittet ihn inständig zu bleiben. Sein Vater, das unangefochtene Oberhaupt, verbietet ihm streng, nach Bani Walid zu fahren. Zunächst scheint es so, als füge er sich. Doch eines Morgens kehrt er nicht aus der Uni heim. Er hat sich wieder ein Maschinengewehr besorgt und schließt sich den Milizen an. Innerhalb weniger Tage „befreien“ sie die Stadt.

Diesmal ist die Rückkehr überschattet. Der Vater spricht kein Wort mehr mit ihm. Mahmoud fühlt sich geächtet. Aber auch schuldig gegenüber den Kumpels im Libya Youth Center, die ihn vergeblich hatten halten wollen, mit denen er so leidenschaftlich über eine friedliche Zukunft für das Land diskutiert hatte. Nun sieht er sich als Verräter eines Weges, den er zuvor eingeschlagen hatte. „Seitdem ist der Krieg ‚akbar adow’, mein größter Feind.“ Er hat begonnen, therapeutische Sitzungen bei Nayla zu nehmen. Sie zeigen Wirkung. „Zwar kommt immer wieder Wut hoch, und manchmal weiß ich gar nicht warum. Aber ich habe gelernt, ihr nicht sofort nachzugehen.“ Affektbeherrschung nennt Nayla das. Mahmoud ist einer der eifrigsten Freiwilligen im Zentrum geworden. Das Studium als Lebensmittelingenieur hat er abgeschlossen. „Ich will im neuen Libyen eine Führungsposition einnehmen, ich will meinem Land dienen. Das ist mein Ziel. Ich bin froh, ein Ziel für meine Zukunft zu haben.“

Sein FN Gewehr bewahrt er zuhause im Kleiderschrank auf. Und noch ein paar andere Waffen, über die er nicht sprechen möchte. „Die gebe ich irgendwann ab. Aber nur an eine Behörde, der ich wirklich vertrauen kann.“ Wie er sehen es tausende Ex-Kämpfer: Sie halten sich bereit. Mahmoud lebt in einer Zerrissenheit, die typisch ist für Libyen auf dem Weg zurück zum Frieden: Während er im Zentrum an Kursen für „gewaltfreie Kommunikation“ teilnimmt, bleibt er vorsichtshalber bewaffnet. Falls eines Tages wieder ein Diktator auftaucht und der Horrorfilm von vorn begänne.