Die Provinz als Gegend-Entwurf
Da kommt uns die Wilde Weite Welt ins Haus, und manchmal wünschten wir, sie käme nicht. Es läuft ja nicht so, dass sie freundlich anklopft: Darf ich mal kurz reinkommen? Sie macht sich fraglos in unseren Wohnzimmern breit, krempelt Portemonnaies und Aktiendepots um, verfolgt uns bis an die Tankstelle. Unsere Arbeitsplatzbeschreibung hat sie schon dreimal neu diktiert.
Fassungslos finden sich die Bürger derzeit überrollt von globalen Wirkungswellen, die irgendwo oder nirgendwo beginnen und massiv in den Alltag eingreifen. Alles hängt mit allem zusammen. Aber wie? Zahlungsschwierigkeiten amerikanischer Häuslebauer, Ernteeinbrüche in Brasilien oder ein drohender Krieg im Nahen Osten können sich zu bedrohlichen Turbulenzen aufschaukeln, die ganze Staatshaushalte durcheinander wirbeln. In Sternstunden von Ehrlichkeit bekennen Politiker und Unternehmensführer: Wir wissen auch nicht weiter.
Auf der Suche nach mehr Übersichtlichkeit fällt der Blick – auf die Provinz. Eine Renaissance des Regionalen ist zu beobachten, eher leise, eher unbemerkt. Sie zeigt sich nicht etwa in massenhafter Stadtflucht, sondern in einem stärkeren Selbstwertgefühl der Menschen, die auf dem Lande leben. Ein erster Hinweis auf wiedererwachenden Regionalstolz ist der überraschende Erfolg von Magazinen Landlust oder Landluft. Editorials wie Liebeserklärungen, etwa an das Remstal bei Stuttgart: „So viele spannende Menschen, von leidenschaftlichen Schafferla bis zu eingefleischten Rebellen, von traditionsbewussten Landleuten zu Global Playern der Moderne. Und das alles in einem Landstrich zum Niederknien.“
Interessant ist auch die Machart. Anders als früher, wo pensionierte Lehrer für den Heimatanzeiger knipsten und die inhaltliche Fallhöhe selten die Länge des Kirchturms erreichte, zeichnen hier international renommierte Fotografen und Autoren verantwortlich. Sie lassen in ihre Porträts des Lokalen das Weltläufige einfließen; wer gestern noch in Wladiwostok recherchierte, schaut anders auf Waiblingen. Der Blick weitet sich. Die Protagonisten der Reportagen verkünden unisono: Wir leben im Grünen, und wir stehen mitten in der Welt.
Gestiegenes Selbstbewusstsein regt sich auch in der mittelständischen Wirtschaft. Rund 70 Prozent der 1500 Weltmarktführer, die es in Deutschland gibt, sind Familienunternehmen. Viele von ihnen haben ihren Sitz, wie es so unschön heißt, in der Pampa. Seien wir ehrlich: Wer unter den Lesern weiß auf Anhieb, wo Heidenheim liegt? (Heidenheimer mal ausgenommen) Aber dort siedelt der Primus für medizinische Pflegeprodukte. Neutraubling? Die Nummer eins in Sachen Getränkeabfülltechnik. Neckarsulm? Spitze bei Zusatzheizungen in Autos. Die Region Heilbronn-Franken rühmt sich gar eines Clusters von 90 solcher global aktiver „Hidden Champions“ zu sein. Als Ausdruck neuer Hochgefühle formulierte man einen markigen Slogan: Langweilige Provinz – immer nur Platz 1.
JWD, janz weit draußen, so sah der Berliner sein Umland. Provinz wurde immer schon negativ definiert, als Un-Stadt, als Nicht-Zentrum. Die Arroganz urbaner Eliten wird spürbar. Sie verstellt den Blick darauf, warum das Leben auf dem Lande zunehmend attraktiver erscheint. Ein Grund von vielen ist ein Phänomen, das die Psychologie als Selbstwirksamkeit beschreibt. Menschen möchten erleben, dass sie aus eigener Kraft etwas gestalten können. Leistung soll sich lohnen, Engagement will die Verhältnisse positiv beeinflussen. Dieses Erlebnis ist in überschaubaren Umfeldern möglich. Dort, wo man die Folgen seines Handelns täglich besichtigen kann, wo man Widersacher und Mitstreiter morgens beim Bäcker trifft. In Zeiten der Globalisierung, wo Impulse, die man in den Cyberspace sendet, alles und nichts bewirken können, wird die Erfahrung von Nähe und Nachbarschaft wertvoll. Die Provinz als Gegend-Entwurf.
Zwei Grundbedürfnisse, sagt der Neurobiologe Gerald Hüther, treiben uns Menschen um. Einerseits der Wunsch nach Verbundenheit ¬– das Gefühl, dazu zu gehören, in einer Gemeinschaft geborgen zu sein. Andererseits der Freiheitdrang – der Wunsch, seinen eigenen Weg zu gehen, sich entwickeln und wachsen zu dürfen. Zwischen diesen beiden Polen oszilliert unser Leben. Ein Spannungsfeld, in dem wir den Widerspruch von Nähe und Distanz zu vereinbaren suchen. Und hier kommen das Dörfliche und Kleinstädtische ins Spiel. Früher punkteten sie zwar bei Zugehörigkeit, aber um welchen Preis? Die Welt weit abseits der Metropolen zeigte sich dumpf, dunkel, dämonisch, mindestens als muffige Enge.
Rückblende, Erinnerungen an meine Jugend im Sauerland. Da es dort immer noch keinen ICE-Bahnhof gibt, hier für alle (Sauerländer mal ausgenommen) eine kurze Lagepeilung: Mittelgebirgslandschaft zwischen Ruhrgebiet und Rothaarkamm, Land der tausend Berge, das es nur selten in die Nachrichten schafft, und dann nur in die Verkehrsmeldungen, wenn Nebel die Sicht am Autobahnkreuz Olpe-Süd behindert. Fichten waren nicht die einzige Monokultur, die mich bedrückte. Noch bis in die Siebziger Jahre hinein erfüllte das Sauerland treu alle Klischees einer Gegend, die nicht nur hinter den Bergen, sondern auch hinter dem Mond lebte. Meine Mitsauerländer zeigten sich stur und maulfaul. „Dickkopp“ galt als Kompliment. Im Schützernverein gehörte ein Schuss Fremdenfeindlichkeit zum guten Ton. Die Dreieinigkeit aus Pfarrer, Bürgermeister und Dorflehrer bestimmte, was im Dorf geglaubt und gedacht werden durfte. Als aufmüpfige Jugendliche, aus der Ferne infiziert von der Studentenrebellion in den Städten, litten wir unter der totalen Sozialkontrolle, oder wie Georg Danzer reimte: „Hast du eine Erektion/ sie merken´s schon, sie merken´s schon.“ Die meisten von uns hatten ein klares Ziel: Nix wie weg von hier, möglichst weit, möglichst in die Stadt. Sie war unser Sehnsuchtsort, dort vermuteten wir die aufregenden Anschlussstellen an die Weltläufte. Freiheit statt Fichten.
Und heute? Ziehen viele Junge nach dem Studium wieder zurück in ihre Heimatdörfer. Sie preisen die hügelige Landschaft und die gesunde Luft. Ihre Kinder wachsen hier gerne auf. Es fehlen Amüsiermeilen und Residenztheater, aber auch Drogenstrich, Lärm und Rushhour. Man findet Arbeit bei Unternehmen wie Veltins, Falke oder Ritzenhoff, bekannte Marken, die seit Generationen in Familienbesitz sind. Die Zufriedenheit mit der Lebensqualität ist hoch. DSL und Pkw garantieren Bewegungsfreiheit, deshalb entfällt die Notwendigkeit zur Flucht. Und weil es auf dem Land städtischer zugeht als früher, einschließlich der Schattenseiten von Anonymität, wachsen die Freiheitsspielräume. Hier wie in anderen deutschen Regionen läuft der Großversuch, Heimatverbundenheit und Weltläufigkeit kreativ miteinander zu kombinieren. Für die Einheimischen bedeutet es: Man ist verwurzelt UND vernetzt. Eine neue Balance zwischen Verbundenheit und Autonomie entsteht.
Dennoch leidet die Provinz unter Imageproblemen. Nach wie vor gilt sie als langweilig und rückständig. Das merken Unternehmen, wenn sie um die besten Köpfe unter den Hochschulabsolventen werben. Wer möchte nach Gütersloh, bitte aufzeigen? (Ostwestfalen mal ausgenommen). Eine Neubewertung ist dringend notwendig. Hier zeigt sich die Sonnenseite von Globalisierung: Unter den Bedingungen von Hypervernetzung greifen die alten geografischen Kategorien von Zentrum und Peripherie nicht mehr. Entfernungen schrumpfen. Zwar gibt es auch im Netz Haupt- und Nebenknoten, aber mittlerweile ebnet eine hohe Konnektivität die Unterschiede zwischen Stadt und Land ein.
Das öffnet ungeahnte Nischen, etwa in den sich entleerenden Landschaften im deutschen Osten. Die neuen Bundesländer haben in den vergangenen zehn Jahren unterm Strich mehr als eine Million Menschen durch Abwanderung verloren, ländliche Gebiete deutlich mehr als die Städte. Aber jüngst ist eine Gegenbewegung zu beobachten: Go East, ab in den Wilden Osten, die Provinzpioniere kommen! Angelockt von Vierseithöfen, die zu verfallen drohen, von der Aussicht, prächtige Gutshäuser zu renovieren, und von skandalös niedrigen Grundstückspreisen. Wo viel brach liegt, lässt sich viel aufbauen. Die da seit einiger Zeit die Ärmel aufkrempeln, sind überwiegend Stadtflüchter, die die Nase voll haben von Stress, Stunk und Stau. Es sind derzeigt noch wenige, ein buntes Völkchen von Künstlern, Journalisten, Architekten, Handwerkern.
Die Novizen in der Provinz kommen nicht als Aussteiger, sondern als Gründer. So erblüht auf dem Gelände einer ehemaligen LPG das Ökodorf Brodowin, einschließlich des größten Demeter-Bauernhofs in Europa. Im 200-Seelen-Weiler Saunstorf bei Wismar entstand in einem ehemaligen Herrenhaus ein überkonfessionelles Kloster, ein „Ort der Stille“, an den sich burnout-geschädigte Manager zu Meditation und Einkehrtagen zurückziehen können. Eine ungewöhnlich hohe Zahl Freier Schule geht reformpädagogische Wege. Dünnbesiedeltes Land lockt als Möglichkeitsraum für Pionier-Projekte. Die Neuankömmlinge brauchen kreatives Geschick und eine gehörige Portion Mut. Und eine gute Datenleitung zur Wilden Weiten Welt.