Ein Dom als Gebirge
Fünf Millionen Steine. Trachyt, Kalkstein Andesit Muschelkalk. Sie ruhen in einem Bett aus Rheinkies, erheben sich, verlassen die Erde, sich gegenseitig stützend, und verabschieden sich nach oben, ins Blaue hinein. Sie formen Höhlen, Schluchten, Gänge und Steilwände. Aus dem dunklen Massiv ragt ein Paar Felsentürme wie zwei riesige Stalagmiten hervor. Gotteshaus und Gebirge. Auf seinem Ausguck wird der Wanderfalke unruhig. Sein Lieblingsplatz in achtzig Meter Höhe ist ideal, um die Zugvögel zu beobachten, denen der Fluss als Fluglinie dient. Jetzt hebt er mit einem kräftigen Sprung ab. Er presst die Schwingen eng an den Körper, stürzt nach unten, scheint eher zu fallen als zu fliegen, bremst mit einem einzigen Flügelschlag ab und greift in der gleichen Sekunde in den Hals eines ahnungslosen Goldregenpfeifers. Er zerrupft ihn an seinem Kröpfplatz, einem geschützten Steinvorsprung an der Nordseite. Heiligtum und Horst.
Im Schatten eines Pfeilers hat sich ein Tüpfelfarn angesiedelt. Eigentlich unwahrscheinlich, dass der Wind seinen Samen hier hochwehte. Noch unglaublicher, dass er eine Fuge fand, in der er sich festsetzen konnte. Und doch gab ein Riss im Stein dem Zufall eine Chance. Wasser fließt reichlich, ein bisschen Humus ist auch da, und der Farn gedeiht prächtig. Dom und Dolomiten. Wanderfalke und Tüpfelfarn erklärten den Kölner Dom zu ihrem bevorzugten Biotop. Unschuldige Kreaturen! Nur sie können die Ketzerei wagen, das heilige Haus der Katholiken, die Wacht am Rhein, das “großartige Schauspiel” (Victor Hugo) auf irdische Maße und profanen Nutzen zu reduzieren: 160 000 Tonnen Stein, auf denen sich prima leben lässt. Gotische Fenster und elegante Strebbögen sind ihnen schnuppe. Unterschiedslos überwuchern Flechten filigrane oder plumpe Arbeiten der Steinmetze. Die Wurzeln der Warzenbirke ignorieren die Gesetze der Statik. Tauben scheißen auf mittelalterliche Malkunst. Kulturbanausen sind sie allesamt. Aber erfolgreich.
In völliger Verkennung der Tatsachen wähnen sich die Menschen immer noch im Besitz des Kölner Doms. Vielleicht, weil sie schon seit Hunderten von Jahren daran bauen, Vielleicht, weil er so teuer war. Oder weil ein Bauwerk wie er zu den geistlichen Kulturgütern zählt, somit weit über die Natur erhaben ist. Für die Ewigkeit haben sie ihn vorgesehen. Deshalb glauben sie auch fest daran, er bleibe ihnen ewig erhalten. Dabei standen die Chancen einer Kathedrale, schadlos zu überleben, noch nie schlechter als in diesem Jahrhundert. Der Zahn der Zeit trägt hässliche Namen: Fliegerbomben, Saurer Regen, Vandalismus. Ganz abgesehen davon: Auch der Kölner Dom besteht nur aus natürlichen Materialien, ist ein Teil der Natur. Und ein Opfer ihrer Eroberungsfeldzüge, Stein für Stein.
“Bärtiger Bocksdorn”, ruft der Professor und ist zum ersten Mal wirklich überrascht. Nicht weil er den Busch überhaupt antrifft, an der Nordseite des Doms, in etwa fünfzig Meter Höhe, Bocksdom stammt aus China. Als “Bodendecker” erfreut er in unseren Breiten die Herzen all jener Hobbygärtner, die zu faul zum Unkrautjäten sind. Nein, erstaunlich findet der Professor nur, dass der Busch sich in dieser bedrängten Lege überhaupt halten konnte. Eingeklemmt steht er in einer mit Blei ausgegossenen Nische, beschattet von den Brettern eines Baugerüsts, Und dennoch setzte er sogar einen Ableger in die Welt.
Gerhard Follmann, 63, Botanikprofessor in Köln, spaziert oft hier herum. “Candelariella coraliza, da ist sie ja. Ich würde mal mit “korallenförmige Kleinleuchterflechte’ übersetzen”, sagt er und deutet auf einen hellen Belag, der den Stein leicht leprös aussehen lässt. Flechten sind seine Favoriten. Sie locken ihn seit Jahren auf den Dom. Fast fünfzig Arten von Organismen hat er dabei notiert: Spaltpilze. Blau- und Grünalgen, Kernpilze, Moose, Krusten- und Lappenflechten. Als große Farbflächen, grün, silbriggrau oder leuchtend gelb, beleben sie die abweisende Düsternis der Fassade. Man wird den Eindruck nicht los, der Dom habe gebrannt. Eine Patina, die sich aus dem Dreck in der Luft speist, streifte den Wänden ein rußigschwarzes Totenhemd über. Angeregt durch das Weihevolle des Bauwerks unter ihm, kommen dem Professor biblische Bilder in den Sinn. “Flechten”, sagt er, “verwandeln Stein in Brot.’ Ein Phänomen, das Botaniker entzückt und Baumeister entnervt. Die Flechten produzieren eine schwache Säure, um Nährstoffe wie Kalzium, Natrium und Magnesium aus dem steinernen Untergrund zu lösen. Bröckelt die Flechtenkruste bei starkem Regen ab, setzen Algen und Bakterien nach und ruinieren, Weichmacher auch sie, das Mauerwerk vollends. Zwischen den Säulen einer Brüstung entdeckt Follmann eine kleine, aber komplette Wiese. “Das tollste Gras der Welt, das Einjährige Rispengras. Es ist viel herumgekommen. Sogar in der Antarktis wurde es nahe bei Forschungsstationen gefunden.” Er breitet ein Taschentuch aus und kniet sich hin. Das muss er sich näher ansehen. Grimmsches Polstermoos hat Schicht auf Schicht gelegt, das neue Grün auf den torfigen Kadaver des alten, und so ein dickes Kissen gebildet, Löwenzahn und das Rispengras haben sich darauf niedergelassen.
Einem natürlichen Berg gleich, bietet das Domgebirge unterschiedlichste Lebensräume und Klimazonen. Die schattige Nordfassade. Das sonnige Querhaus im Süden. Geschützte Winkel zwischen den seitlichen Strebebögen am Langhaus. Windige Höhenlagen an den beiden Türmen. Über die Jahrhunderte wechselten nicht nur architektonische Vorlieben, sondern auch die Materialien. Rund fünfzig Gesteinsarten verwendeten die Baumeister und legten damit den Nährboden für eine vielfältige Flora. Üppig wucherndes Zimbelkraut, das im Mai weiße, violett anlaufende Blüten trägt, bevorzugt einen kalkhaltigen Untergrund und hat sich auf Plätze an der Südseite spezialisiert, die mit Beton ausgegossen sind. Auf dem Sandstein des Geländers darüber bilden Algen und Flechten ein buntes Mosaik, vom Kot der Tauben und Möwen gut gedüngt. Das Schmalblättrige Weidenröschen krallt sich am liebsten im Polstermoos fest.
Weiter geht die botanische Exkursion über den Dächern der Stadt. Vorbei an Teufelsfratzen und Heiligenköpfen, Wandbildern und Wasserspeiern, in dunklen Sackgassen endend. Über schmale Grate und winzige Treppen, und immer wieder zu Plätzen mit berauschenden Ausblicken. “Ohne Anspruch auf Vollständigkeit” führt der Professor seine botanische Funde vor, In den hängenden Gärten von Köln wachsen Salweiden und Vogelkirschen, Gemeiner Wurmfarn und Ungleichgezähntes Greiskraut, Silbermoos und Roter Klatschmohn. Jede weitere Entdeckung kündigt der Professor mit der Würde eines Protokollbeamten bei Hofe an, der Prominente ausruft. Seine Genugtuung rührt aus der Tatsache, “dass sich hier oben Pflanzen den Platz zurückerobert haben, den wir ihnen unten zugepflastert haben”. Doch auch er weiß, dass dieser Sieg eher symbolischen Charakter hat. Er blüht im Verborgenen. Und er hängt von menschlicher Gnade ab. Denn der Dombaumeister ist verpflichtet, stets dann in den Kampf zwischen zeitloser Flora und gotischer Architektur einzugreifen, wenn er zuungunsten des Doms auszugehen droht. Es tat ihm zwar leid, aber die Birke, die in luftiger Höhe zu einem viereinhalb Meter großen Stamm aufgeschossen war, musste er fällen lassen. Ihre Wurzeln begannen die Mauer zu sprengen. Bliebe noch die optimistische Interpretation, die wild wuchernden Flechten könnten zumindest Anzeiger für saubere Luft sein. Wieder muss der Professor enttäuschen: “Die meisten Arten, die ich hier und auf den anderen Kirchen in Köln gefunden habe, sind toxikatolerant.” Anders ausgedrückt: Ob der Wind Gifte herweht oder nicht, ist dieser Art Mauerblümchen ziemlich egal. Wanderfalken sind selten geworden in Deutschland. In Nordrhein-Westfalen hat sich nur noch eine Handvoll Brutpaare gehalten. Durch den zunehmenden Klettertourismus wurden Greifvögel von vielen ihrer Felsen vertrieben. Nunmehr müssen sie mit Gebirgen aus zweiter Hand vorliebnehmen. Claus Doering bemüht sich, die Wanderfalken wieder am Dom heimisch zu machen, wo sie in den dreißiger Jahren noch häufig gesehen wurden. Seine Start- und Nisthilfe brachte ihm, dem früheren Fernsehregisseur und heute 71jährigen Pensionär, mehreres ein: beim Europäischen Umweltpreis eine Urkunde “als Anerkennung für großartiges Engagement’; bei weichherzigen Kölner Vogelfütterern den Argwohn, er zettele, sozusagen von oben herab, einen Krieg der Falken gegen die Tauben an; und schließlich das Gezetere anderer Vogelkundler, die eine Wiedereinbürgerung mit anderen Falken oder mit anderen Methoden, jedenfalls viel besser als er gemacht hätten.
Doering steht auf einem Gang über dem Hochchor. Was er durchs Fernglas sieht, ist ihm Beweis genug für seinen Erfolg. Auf einem Turm von Groß St. Martin, der nächsten Kirche rheinaufwärts, sitzt ein Wanderfalke. Das Männchen hockt dort häufig. Das belegen Kotspuren, die wie ein weißer Pfeil nach unten weisen. Dort, verborgen in einem Erker, liegt sein Horst. Der Falke bewacht ihn von höherer Warte aus. “Drei Junge hat er dieses Jahr!” Claus Doering ruft es jedem Bauarbeiter zu, den er beim Abstieg trifft. Im Jahr 1979 gab der Dombaumeister erstmals die Erlaubnis, Wanderfalken am Nordturm auszusetzen. Bis 1987 klappte nichts, die ausgewilderten Tiere verschwanden jedes Mal auf Nimmerwiedersehen. Dann kamen die ersten Bruterfolge. Und seit es Eier und Jungvögel auf dem Dom gibt, ist Doering auf die Umsicht der Arbeiter angewiesen. Zum einen, weil sie den Vögeln nicht zu nahe kommen sollen. Zum anderen sollen sie helfen, mögliche Diebe abzuschrecken. Für die Eier der seltenen Greife zahlen Falkner auf dem Schwarzmarkt einige zehntausend Mark. Vom Dom aus begann die Neubesiedlung des Rheinlands. Oder Nachwuchs aus den ersten Gelegen musste sich neue Reviere suchen, um den Eltern nicht in die Quere zu kommen, Inzwischen teilen sich schon drei Paare die Umgebung, darunter auch der Horst auf St. Martin. “Merkwürdig”, sagt Claus Doering, “dass keiner der Falken in die freie Landschaft auswanderte.” Offenbar sind sie zu echten Großstädtern geworden.
In Rheinnähe macht vor allem die reiche Beute das Leben angenehm. Schwärme von Zugvögeln bringen Abwechslung auf den Speiseplan. Dem Fluss folgend, fliegen sie direkt vor den Augen der Falken vorbei, einmal nach Süden und zurück. Leichte Beute. Doering fand Reste von Wachteln, Krickenten, Regenbrachvögeln, Mönchgrasmücken, Zwergtauchern und vielen anderen Arten. Während im Erdgeschoß den Gläubigen stets nur Hostien gereicht werden, weiß und ohne Geschmack, gönnen sich die Greifvögel siebzig Meter höher täglich ein Fleischmenü. Und setzen eine komplette Nahrungskette in Gang. Sie schlagen Beutetiere und schleppen sie zu ihren Kröpfplätzen auf dem Dom. An den Kadavern versammeln sich unzählige weiße Maden als Resteverzehrer. Die locken Insektenfresser wie das Hausrotschwänzchen an. Das wiederum fällt den Wanderfalken zum Opfer: Alles beginnt von vorn. Der Dom ist nicht nur Bühne für Naturschauspiele, für Dramen zwischen Räubern und Beute.
Er selbst ist ein Opfer der Gewalten. Jahr für Jahr strömen 5760 Kubikmeter Wasser auf ihn herab. In seinem Alter von mehr als 700 Jahren ergibt das die stolze Summe von 4 032 001 Kubikmetern. So viel, als würde man 6250 Stunden lang den ganzen Rhein über dem Dom ausleeren. Das weiche Wasser bricht den harten Stein. Fialen bekommen die Fallsucht, Zacken runden sich, Kreuzblumen verwelken, Heilige verlieren ihr Gesicht. An den 160 Meter hohen Türmen reibt ein rauer Wind, der auf die Dauer wie eine gewaltige Raspel wirkt. Ein gleichmacherisches Prinzip der Natur namens Erosion ist am Werk. Ein Rundgang um den Dom zeigt das Ausmaß des Abtrags. Am Boden liegen Gesteinsbrocken in allen Größen, kleinere Kiesel und schaufelweise Sandkörner. Seit einigen Jahrzehnten läuft der Verfall immer schneller ab, wie ein Film im Zeitraffer. Die Menschen geben sich alle Mühe, die Zerstörung zu beschleunigen. Im Zweiten Weltkrieg wurde der Dom von Brandkanistern, neunzehn Granaten und vierzehn schweren Bomben getroffen. Nach 1945 ging der Krieg für den Dom weiter. Mit ihren Tiefflügen über dem Rhein verabreichte ihm die Bundesluftwaffe einige Nachschläge, Den Druckwellen, die beim Durchfliegen der Schallmauer entstanden, hielten viele der mittelalterlichen Fenster nicht stand. Erst in unseren Tagen wurden die Risse in den kostbaren Glasmalereien entdeckt. Luftangriffe bleiben die wichtigsten Feinde des Doms, Nur die Munition wechselte.
Heute geht ein Dauerbombardement mit Schwefeldioxid, SO, abgekürzt, auf ihn nieder. Es stammt aus den Kohlekraftwerken, die Köln geradezu umzingeln, und von dem starken Autoverkehr, der den Dom umkreist. Das SO, reagiert mit Wasser zu schwefliger Säure, die die Karbonate im Gestein zersetzt. Aus dem Bindemittel Kalkspat wird bauschädlicher Gips, der sich in Wasser löst und bei Regen weggewaschen wird. Oberflächen bröckeln ab wie Würfelzucker. Der Dom lebt, er atmet, er schwitzt, er zieht sich zusammen bei Kälte, er dehnt sich aus bei Hitze. Aber er kann sich nicht ducken vor dem ätzenden Regen, ihm fehlen Beine, um vor der Gefahr wegzulaufen. Seit Mitte der siebziger Jahre sinkt zwar die Belastung der Luft, doch das bis dahin und heute noch angewehte SO, lässt weiterhin die Steine sterben. Arnold Wolff ist berufen, sie über harte Zeiten zu retten. Den Professor und seinen Dom verbindet eine lange Liaison. Gefragt, ob es nicht eintönig sei, das ganze Leben mit einer einzigen Kirche zu verbringen, entgegnet der 61jährige: “Ich empfinde es als großes Privileg, dieses Bauwerk richtig zu durchdringen, seine Geschichte und seinen Geist.” 1962 trat er als Assistent in die Dombauhütte ein, zehn Jahre später wurde er deren Chef. Als fünfzehnter Dombaumeister seit Gerhardus und der Grundsteinlegung im Jahr 1248.
Arnold Wolff hat seinen Pflegefall immer im Blick. An einem Fenster seiner Wohnung installierte er ein Fernglas. Um die Leiden seines Patienten zu behandeln, stehen ihm rund hundert Mitarbeiter zur Verfügung: Architekten, Bauingenieure, Archivare, Kunstglaser, Historiker und Steinmetze. In diesem Jahr darf die Dombauhütte knapp fünfzehn Millionen Mark ausgeben, zusammengelegt von Erzbistum, Land und Stadt. Neues zu bauen ist oft leichter, als Altes zu erhalten. Arnold Wolff bleibt nichts anderes übrig, als das angefressene Gemäuer nach und nach zu ersetzen; Pfosten, Türmchen, Gesimse. Fialen, Kreuzblumen und Strebebögen. Doch jeder Austausch ist nicht nur Reparatur, sondern auch Zerstörung. Stein für Stein entfernt sich der Kölner Dom vom Original und nähert sich seiner Kopie. Nein, sagt Arnold Wolff, das bedrücke ihn nicht sonderlich: “Von den berühmten Texten Cäsars ist auch keiner als Originalschrift erhalten. Wichtig ist doch nur, dass seine Botschaft uns über die Jahrhunderte erreicht.”