Libyen: Der zweite Krieg gegen die Frauen
Die Kluft zwischen uns scheint unüberwindlich. Auf der einen Seite des u-förmigen Sofas sitzt eine junge, libysche Frau mit einem Kopfschleier, der ihr Gesicht freigibt, auf der anderen ein Journalist, deutsch, mittleren Alters, in Jeans. Ich weiß, dass sie vor zwei Jahren gefoltert und vergewaltigt worden ist. Sie ahnt, dass ich es weiß.
Wir probieren ein paar Gesten. „Ich kann Klavier spielen“, sagen Asmas Hände. Die Augen dunkel und ernst, ihr Mund deutet ein scheues Lächeln an. Kein Klavier in der Nähe. Kann sie wirklich? Mir fällt ein, dass auf meinem Laptop eine Klaviatur ist. Asma ertastet mit schlanken Fingern eine Tonleiter. Dann spielt sie eine Melodie, „Frère Jacques“. Ich singe auf Deutsch dazu. „Hörst du nicht die Glocken?“ Ein Moment des Einverständnisses, zeitlos. Ihr Gesicht nun kindlich. Sie wirkt entspannt, so leicht, als könne sie aus ihrem Leben davonfliegen.
Nichts würde sie lieber tun als das. „Die Revolutionäre, die im Kampf gefallen sind, werden als Helden verehrt. Aber ich habe auch für die Freiheit gelitten“, sagt Asma zu ihrer Freundin, die es mir übersetzt, „Mein Fehler ist, dass ich noch lebe.“ Ihre Stimme klingt bitter. Märtyrer weiblichen Geschlechts, lebendig, sind im postrevolutionären Plan nicht vorgesehen. Manche von ihnen werden als so große Bedrohung empfunden, dass sie getötet werden müssen.
Asma heißt nicht so. Um sie nicht durch diese Veröffentlichung zu gefährden, haben wir ihren Namen geändert. Es ist der 15. März 2011, als Asma den ersten Kreis der Hölle betritt. Sie verlässt in Eile ihr Elternhaus in der westlibyschen Stadt az-Zawiyya, auf der Suche nach einem sicheren Ort. Ihre Mutter ist im Krankenhaus, der Vater gehört zu den Aufständischen, die die Stadt im Februar freigekämpft haben. Er ist untergetaucht. Gaddafis Elite-Brigaden ist es gelungen, die az-Zawiyya zurück zu erobern. Soldaten durchkämmen die Häuser. Asma, gerade 20 Jahre alt geworden, fühlt sich schutzlos, will zu ihrem Onkel. Auf der Straße wird sie von Uniformierten angehalten. Sie hat keinen Ausweis dabei. Einer der Männer herrscht sie: „Du bist sicher eine der Ratten.“ So nennt Gaddafi die Freiheitskämpfer. „Ratten“ heißen sie auch im Staatsfernsehen. Entmenschlichung ist immer der erste Schritt.
Die Männer zerren Asma in ein Auto. Sie drücken ihren Kopf auf den Wagenboden, binden ihre Hände zusammen, schlagen sie auf den Kopf, auf die Hände, auf die Brüste. Asma ist betäubt von Schmerz. Sie kann nicht sehen, wohin die Fahrt geht. Beim Aussteigen stülpt ihr jemand ein Kapuze über den Kopf. Als sie ihr abgenommen wird, stößt man sie in einen kleinen Raum. Sie fällt auf den Boden. Ihr Gehirn arbeitet fieberhaft. Sie merkt sich Namen, den Dialekt der Soldaten, Gerüche. „Das könnte ein Bauernhof gewesen sein.“ Andere Männer kommen herein, reißen ihr die Kleider vom Körper. Einer nach dem anderen vergewaltigt sie. Die Peiniger verletzen vorsätzlich ihre Vagina. „Irgendwann habe ich nichts mehr gefühlt. Gar nichts. Es war, als hätte ich meinen Körper verlassen. Ich konnte von außen sehen, wie ich auf dem Boden lag, entblößt. In diesem Moment ist etwas in mir gestorben.“
Asma hat mir diese Einzelheiten nicht persönlich erzählt. Ihre Betreuerin sagt, sie müsse geschützt werden. Die seelischen Wunden dürften nicht immer wieder aufgerissen werden. Deshalb hat sie Asmas Aussage auf Video aufgenommen. Ich sehe eine verschleierte Frau, glaube Asmas Stimme wiederzuerkennen. Sicher bin ich mir nicht. Diese Unsicherheit begleiten die Fotografin Antonia Zennaro und mich seit dem ersten Tag der Recherchen in Tripolis. Viele Gerüchte, verschlossene Gesichter, wenn wir nach den Massenvergewaltigungen durch Soldaten des Diktators Muammar al-Gaddafi fragen. Schwierige Annährungen: Wir, die Ausländer, stellen Fragen, die an eines der größten Tabus in Libyen rühren. Eine Frau, die vergewaltigt wurde, gilt als Schande. In dieser von Männern beherrschten Gesellschaft wird die Schuld einfach umgekehrt: Den Frauen wird vorgeworfen, sie hätten sich nicht vergewaltigen lassen dürfen. In den Gefängnissen Gaddafis wurden auch männliche Revolutionäre vergewaltigt. Für sie besteht die Schmach darin, dass sie nicht mehr als Männer gelten. Aber zumindest haben sie die Möglichkeit, von der Bildfläche zu verschwinden. Mädchen und Frauen dagegen können sich in Libyen nicht frei bewegen. Sie stehen ständig unter Beobachtung. Durch Brüder, den Ehemann, die Schwiegermutter. Mit einer fatalen Folge für Vergewaltigungsopfer: Sie können sich kaum unbemerkt Hilfe holen. Geheimhaltung wird unter diesen Umständen zur Überlebensfrage. Deshalb stellt man uns Bedingungen: Keine Namen, keine Fotos von Gesichtern, keine direkten Fragen zum Hergang der Vergewaltigung! Wir akzeptieren. Und merken erst einige Tage später, dass auch die Helferinnen ihre Geheimnisse haben.
Alle Revolutionärinnen, um die es in dieser Geschichte geht, wurden von Gruppen von Soldaten missbraucht. Nicht selten wurde das Verbrechen gefilmt. Die Videos schickten die Folterer an bekannte Aufständische. Mit der Drohung: „Das werden wir auch mit deiner Frau machen. Mit deiner Mutter. Mit deiner Schwester. Und du wirst das nicht verhindern können. Besser du verlässt die Ratten.“
Menschenrechtsorganisationen sprechen von systematischer sexueller Gewalt, die Gaddafis Regime ausübte. Vergewaltigung als Waffe. Sie wurde in der Armee nicht nur toleriert, sondern von höheren Dienstgraden angeordnet. Ein gezielter Angriff gegen die Frauen, die stark waren während der Revolution. Es waren Frauen im ostlibyschen Benghazi, die das Signal zum Aufstand gaben. Sie hatten ihre Söhne und Männer verloren, beim Massaker von Abu Salim, einem Hochsicherheitsgefängnis für Regimegegner. 1200 Menschen wurden dort hingerichtet, nach einer Revolte, innerhalb von wenigen Stunden. Jahre später demonstrierten Mütter und Ehefrauen. Jeden Freitag. Sie verlangten Aufklärung. Sie hatten nichts mehr zu verlieren. Als keine Antworten kamen, riefen sie die „Tage des Zorns“ aus. Das war im Februar 2011. Der Kampf gegen den Diktator begann.
Mit dem Vergewaltigungsterror wollten Gaddafis Schergen die Bewegung demoralisieren. Die Frauen demütigen. Ihren Widerstand brechen. Und dennoch schlossen sich viele den Rebellen an. Versorgten sie mit Informationen. Beschafften Waffen im Ausland. Kochten für die Milizionäre. Kundschafteten die Stellungen der Armee aus. Während des Bürgerkriegs wurden Frauen, die in Gefangenschaft gerieten und gefoltert und vergewaltigt wurden, als Märtyrerinnen verehrt. Doch ist der Sieg der Revolution auch ihr Sieg?
Als wir danach fragen, stoßen wir auf Schweigen und Ablehnung. Wenn überhaupt jemand mit uns sprechen will, wird verharmlost. Man murmelt etwas von Einzelfällen. Experten der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch dagegen sprechen von einer großen Zahl von Fällen, mit einer kaum abschätzbaren Dunkelziffer. Allein in einem Viertel der heftig umkämpften Stadt Misrata wurden 30 Vergewaltigungen von Frauen gemeldet, die an der Seite der Rebellen standen. Sexualisierte Formen der Folter an Gefangenen, Frauen wie Männer, war in Libyen ein Mittel der Kriegsführung, ähnlich wie im Kongo oder auf dem Balkan.
Drei Tage lang liegt Asma in dem kleinen Raum auf dem Boden. Sie glaubt, dass mehr als 50 Männer in dieser Zeit in sie eindringen und sie schlagen. Durch den Schleier der Schmerzen hört sie die Stimme eines Mannes: „Aber sie ist doch fast schon tot!“ Sie sagt, das war ein schwarzer Söldner aus dem Ausland. Ein libyscher Soldat antwortete ihm: „Das ist egal. Sie ist eine Hure. Eine Ratte. Mach weiter. Wenn sie stirbt, lass sie sterben.“ Heute sagt Asma, dass in diesem Moment der letzte Rest von Vertrauen in ihr zerbrach. Sie, die ihr Land liebt, ist geschockt, dass ein „Neger“ Mitgefühl zeigt – und ihr Landsmann nur Todeskälte?
Kurz bevor sie die letzte Lebenskraft verlässt, betet sie die Schahada. „Es gibt nichts außer Allah.“ Sie ist sicher, zu Gott zu gehen. Jetzt.
Als sie zu sich kommt, liegt sie im Dreck. Das Gesicht eines älteren Mannes über ihr. Er legt ihr sein Jackett über ihren Leib. Er sagt später, er habe eine Gestalt liegen sehen, die Haut blau-schwarz, aus Körperöffnungen blutend. Erst als er sich traut, ganz nah heranzutreten, spürt er einen leichten Atemhauch. Da ist noch Leben. Intuitiv fährt er Asma nicht ins Krankenhaus, das von Gaddafi-Bataillonen kontrolliert wird, sondern nimmt sie zu sich nach Hause. Als Asma wieder ihre Zunge bewegen kann und ihren Namen nennt, fährt der alte Mann sie zu ihrer Mutter.
az-Zawiyya ist belagert. Es gibt keine Medikamente. Die Mutter hat nichts außer Alkohol, um einen Körper zu pflegen, der eine einzige Wunde ist. Nach einigen Tagen entdeckt sie Ekzeme auf der Haut. Ein neuer Schrecken: Was, wenn einer der Männer krank war, Aids hatte, sie angesteckt hat?
Wie durch ein Wunder überlebt Asma. Während der Kampf um die Stadt tobt, erholt sie sich. In der Obhut ihrer Mutter glaubt sie sich sicher. Das alles sagt sie in die Kamera, als ihre Aussage aufgenommen wird. Da weiß sie noch nicht: Die Hölle hält noch weitere Kreise für sie bereit.
Frauen wie Asma führen heute in Libyen ein Leben wie im Untergrund. Sie werden zu Schatten, unsichtbar, um zu überleben. Wieder werden sie bedroht. Diesmal von Mobbing, von Schlägen, sogar von „Ehrenmorden“. Einer der wenigen, die sich trauen, ihnen zu helfen, ist die libysche Organisation Observatory for Gender in Crisis. Über sie haben wir Asma kennen gelernt. Der Verein operiert ausschließlich im Verborgenen. Alle Mittel der Konspiration sind recht, um zu verhindern, dass Frauen und Mädchen zum zweiten Mal zum Opfer werden. Namen werden verschlüsselt. Dateien geteilt und auf verschiedenen Computern gespeichert. Mädchen, die von ihren Familien verstoßen werden, können in „sicheren Häusern“ untertauchen. Das Observatory hat in dem deutschen Verein Amica einen Partner gefunden, der Gelder besorgt bereit ist, Risiken zu tragen. Auch das Risiko, vieles nicht zu wissen. Wie groß ist das Observatory? Wie viele Opfer betreut er wirklich? Wer kontrolliert die Ausgaben?
Lebensrettende Diskretion widerspricht dem Wunsch nach Transparenz. Das ist nicht nur für einen deutschen Geldgeber eine Herausforderung. Auch für mich als Journalist. Viele meiner Fragen bleiben während der vierwöchigen Recherchen unbeantwortet. Jedes Mal muss ich mehr erfühlen als überprüfen zu können: Geht es jetzt wirklich um Opferschutz oder wird er benutzt, um unangenehme Tatsachen zu verschweigen? Bauscht jemand ein Problem und die eigenen Verdienste auf? Gerücht oder Fakt? Wunschdenken meines Gesprächspartners oder Wirklichkeit? Mit der Zeit merke ich, dass Libyer oft ein eher emotionales Verhältnis zur Wahrheit haben: Sie entscheiden sich für diejenige Version, die ihnen angenehmer ist. Kritisches Hinterfragen wird weder in der Familie noch in der Schule geduldet. Wer dagegen verstößt, muss mit Schlägen rechnen, immer noch das verbreitete Erziehungsmittel. Die 42 Jahre der Diktatur haben eine Spur von Vorsicht und Misstrauen in die Köpfe gebrannt.
Nach langen Vorgesprächen dürfen wir an einem Samstag, am islamischen Wochenende, eines der Zentren besuchen, die vom Observatory gegründet wurden. Es liegt in einer kleinen westlibyschen Stadt, sein Standort muss unbekannt bleiben. „Frauenkulturzentrum“ steht auf arabisch über der Toreinfahrt. Im schmalen Treppenhaus werben Plakate für Computerkurse und Englischlektionen. Im Hinterhof lehrt eine alte Berberin einer kleinen Gruppe von Frauen die alte Kunst des Handwebens. Solche Traditionen wurden in der Zeit der Diktatur planvoll zerstört. Es sollte keine andere Identität geben als die, Anhänger des „brüderlichen Führers“ zu sein. Maryam, die Leiterin, sagt: „Wenn wir wieder töpfern, weben und klassische Kochrezepte weitergeben, ist das für mich wie ein weiterer Sieg über Gaddafi.“
Maryam kennt sich aus mit traditionellem Handwerk. Über den eigentlichen Zweck des Zentrums weiß sie nur soviel wie nötig. „Einige der Frauen haben Schlimmes erlebt.“ Mehr will sie nicht wissen. Denn in Wirklichkeit ist das Haus eine Art Tarnzelt. Es löst ein zentrales Problem des Observatory. Weil eine libysche Frau nicht unbeobachtet irgendwo hingehen kann, ist es für die Organisation schwierig, Hilfe anzubieten. Würde sie offiziell in Erscheinung treten, käme niemand. Das Stigma der Vergewaltigung ist übermächtig. Also bietet das Zentrum Kurse an, die unverdächtig sind. Bei Töpfern und Weben schöpft niemand Verdacht. Männliche Verwandte begleiten bis an die Toreinfahrt. Dahinter mischen sich Opfer und Nicht-Betroffene. Nur die Betreuerinnen wissen Bescheid, welche der Teilnehmerinnen besondere Hilfe braucht. Psychotherapie, Geld, einen Job.
In vielen Fällen habe man einen Ehemann vermittelt, der selbst für die Revolution gekämpft hat und bewusst eine Märtyrerin heiraten möchte. Sagt Huda, eine Führungsperson im Observatory. Auch ihren Namen haben wir geändert. Sie befürchtet, die Frauen zu gefährden, wenn sie erkannt wird. Kurz nach Beginn des Aufstandes fand sie ihre Berufung. Auf die Frage nach ihrem Alter antwortet sie: „Zwei Jahre alt.“ Will sagen, sie lebe erst richtig, seit der Kampf gegen den verhassten Diktator begann. Eine berührende Antwort auf meine Frage. Gleichzeitig eine der vielen Aussagen von ihr, die immer etwas offen lassen. Unbestimmt bleiben. An einem Tag kann Huda barsch abblocken, um am nächsten überraschend loszusprudeln und über intime Details ihres Lebens zu sprechen und am übernächsten zu sagen, „schreib nichts über mich, kein Wort, ich existiere gar nicht“. In der einen Minute kann sie sich ausschütten vor Lachen, in der nächsten bricht sie in Tränen aus, „weil die Schmerzen der Frauen, die ich betreue, mit nichts auf der Welt vergleichbar sind, mit gar nichts!“
Huda trägt schwarze Hosen, schwarze Blusen, die Haare – ohne Kopftuch — schwarz gefärbt. Jeden Tag das gleiche Schwarz. Sie sagt: „Ich habe immer Trauer getragen. Trauer um Libyen. Es gibt heute immer noch viele Gründe, traurig über dieses Land zu sein. Aber eins weiß ich ganz sicher: Es wird nie wieder so schlimm werden wir unter Gaddafi.“ Ich bin fasziniert von ihren Grenzgängen, wenn sie die eine Hälfte des Monates in einer europäischen Metropole lebt, die andere in Tripolis. Von der Kollision ihrer großbürgerliche Herkunft mit ihrem Engagement in sozialistischen Gruppierungen. Von ihrem Mut, als Wissenschaftlerin eine Geheimorganisation für Vergewaltigungsopfer zu führen. Auch wenn sie vieles im Dunklen lässt. Oder gerade deshalb. Widersprüche inklusive.
Sie behauptet, ihre Arbeit völlig unentgeltlich zu tun, Amica dagegen gibt an, Huda habe eine gut bezahlte Stelle in dem mit deutschem Geld geförderten Projekt. Oder ihr Beharren auf der Version, Gaddafis Söldner seien von der Armeeführung mit massenhaft Potenztabletten ausgerüstet worden, um Frauen besser vergewaltigen zu können. „Viagra als Waffe“, das ging in den ersten Wochen des Aufstands durch die Weltpresse; durchaus möglich, dass diese Schlagzeilen die Entscheidung der NATO, in den Bürgerkrieg einzugreifen, begünstig haben. Renommierte Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch dagegen halten die Vorwürfe nach intensiven Recherchen für ein „modernes Märchen“. Als ich Huda darauf anspreche, weicht sie aus, einmal mehr: „Glaub doch, was du willst.“ Spricht hier die Souveränität einer Frau, die sich in ihrer Arbeit nicht beirren lässt? Oder neigt sie dazu, die Realität so einzufärben, dass die Verbrechen noch böser und die Helfer noch besser dastehen? Dabei rechtfertigt schon ein einziges Schicksal wie das von Asma jegliche Empörung, jegliches Mitgefühl.
Viele Opfer schweigen aus Scham. Deutschland hat Ähnliches erlebt. In den letzten Monaten des Zweiten Weltkrieges wurden nach Schätzungen zwei Millionen Frauen und Mädchen vergewaltigt, zumeist von Soldaten der Roten Armee. Auch damals brauchte es keine offiziellen Befehle, um die Rotarmisten zu animieren. Vergewaltigung wurde toleriert, Täter kamen ungeschoren davon, wie in Libyen. Viele der betroffenen deutschen Frauen nahmen das Geheimnis mit ins Grab. Manche trauen sich erst heute, als über 80-Jährige, von ihren schrecklichen Erlebnissen zu berichten.
Posttraumatische Belastungsstörungen zeigen sich oft erst Jahre nach der Tat. Symptome sind Schlaflosigkeit, Orientierungslosigkeit, Ekel vor dem eigenen Körper, Panikattacken. Trauma heißt Wunde. Die Opfer, die während der Tat einen kompletten Kontrollverlust erleiden, behalten eine offene seelische Wunde zurück. Alles was vorher galt, Körper- und Schamgrenzen, alle Grenzen werden schockartig eingerissen. Sie müssen fürchten, nach der Vergewaltigung umgebracht zu werden. Verlust von Lebensvertrauen ist die Folge. Ein solcher Einbruch in die Seele ist so unfassbar, dass die Erinnerung immer wieder zwanghaft zur Tat zurückkehrt. Solche Flashbacks erzeugen eine Endlosschleife quälender Gefühle von Scham und Schuld. Viele Frauen peinigen sich selbst mit Gedanken, was sie hätten tun können, um der Vergewaltigung zu entgehen.
„Ihre Schuldgefühle sind das Schlimmste überhaupt,“ sagt Huda, „denn sie pervertieren die Rollen. Der Täter müsste sich schuldig fühlen, nicht das Opfer.“ Bei Demonstrationen auf dem Märtyrerplatz von Tripolis tragen sie und ihre Mitstreiterinnen Poster mit der Forderung: Statt die Mädchen zu lehren, „lasst euch nicht vergewaltigen“, solle man die Männer lehren, „vergewaltigt nicht!“
Politik heilt keine Traumata. „Aber die Anerkennung, Opfer eines Verbrechen geworden zu sein, ist den Frauen am allerwichtigsten“, sagt Huda. „Sie wollen Gerechtigkeit. Die Täter müssen bestraft werden. Erst dann werden die Frauen, die Vorstellung los, selbst schuld zu sein.“ Heilsam wirken vor allem Gespräche mit anderen Betroffenen. Um Selbsthilfegruppen konspirativ zu organisieren, hat Huda ein kluges Konstrukt gewählt: Immer nur fünf Opfer kennen sich untereinander. Sie sagt, sie habe die Struktur trotzkistischer Zellen kopiert. Keine Zelle wisse von einer anderen. So werde der Schaden minimiert, gäbe es doch einmal eine undichte Stelle. Die einzige, die alle Namen kenne, sei sie selbst, sagt Huda. An Macht sei sie nicht interessiert, sagt sie. Aber ihr Wissensmonopol gibt ihr Macht.
Innerhalb der Fünferzellen können Frauen und Mädchen offen reden. Handys schaffen minimale Privatsphäre. Sie vertrauen sich alltägliche Sorgen an. Nächtliche Albträume. Beraten sich, wenn der Ehemann ausflippt, weil seine Frau sich vor Sex ekelt. Es tut ihnen gut, von den anderen gehört verstanden zu werden.
Asma darf nach ihrer Freilassung aus dem Foltergefängnis von az-Zawiya mit niemandem sprechen. Ihre Mutter pflegt zwar ihren Körper gesund, „aber sie behandelte mich wie Dreck.“ Man sinnt darauf, wie der Schandfleck auf der Familienehre getilgt werden könnte. Ein Cousin von Asma wird dazu verdonnert, sie zu heiraten, sie, die nicht mehr Jungfrau ist, die schwanger ist von einem unbekannten Peiniger. Der Cousin willigt ein. Und Asma betritt den zweiten Kreis der Hölle. Ihre Vagina ist von den Schändungen schwer geschädigt; sie muss in mehreren Operationen genäht werden. Immer wieder blutet sie aus dem Unterleib. Sie fleht ihr Mann an, sie ins Krankenhaus zu fahren. „Er sagte, von mir aus kannst du verbluten.“ Die Familie lässt sie wissen, das Beste für alle sei, wenn sie stürbe. Der Cousin schlägt sie, sperrt sie im Haus ein. Wieder muss Asma um ihr Leben fürchten.
Durch einen Arzt, der auf Hausbesuch kommt, um ein anderes Familienmitglied zu behandeln, erfährt das Observatory von Asma. Huda erzählt, wie es ihr gelang, die verstörte junge Frau in einem unbewachten Augenblick aus dem Haus zu holen und in ein Versteck zu bringen. Von dort aus kann sie nach Ägypten ausreisen. Sie wird sechs Monate in einer psychosomatischen Klinik behandelt, in der Spezialisten für Vergewaltigungsopfer und Traumata arbeiten. Dort bringt sie auch das Kind zur Welt, das unter Folter gezeugt worden ist. „Ich liebe das Baby“, sagt Asma heute und zeigt mir ein Foto von einem Lockenkopf auf ihrem Handy, „aber ich kann es einfach nicht behalten, weil es mich immer wieder daran erinnert, was geschehen war.“ Sie gab es zur Adoption weg. Der Sohn hat es dort gut, sagt sie. Wieder müssen Schuldgefühle beschwichtigt werden.
Asma und Huda sitzen auf dem Sofa. Sie tuscheln, tratschen, lachen zusammen. Sie berühren sich oft, herzen und küssen sich. Es ist nicht nur finanzielle und psychologische Hilfe, die Huda leistet. Es ist ihr Mitgefühl und ihre liebevolle Zuwendung, die heilsam wirkt. „Mamti nennen mich die Mädchen“, sagt Huda: Eine Mutter sei sie für die Opfer. Aber wenn sie sich dann in Asmas Arme kuschelt, wird sichtbar, wie bedürftig nach mütterlicher Zärtlichkeit sie selbst ist. Ich frage mich: Hat sie selbst Gewalt erfahren? Ist sie nicht nur Helferin, sondern auch Betroffene?
Einige Tage später kommt sie von selbst darauf zu sprechen. „Ich war schon als Kind rebellisch. Wollte andere Klamotten tragen als die anderen. Habe mich für Politik interessiert. Und das in einem Pro-Gaddafi-Haus! Meine Eltern haben mich geprügelt. Sie haben mir die Füße zusammengebunden und so lange draufgehauen, bis sie blutig und geschwollen waren. Aber so, dass die Nachbarn oder Schulkameraden nichts sehen konnten.“
Schon als Jugendliche habe sie beschlossen, möglichst wenig von sich preiszugeben. Es könnte gefährlich sein. Eine Einzelgängerin, früh geübt in Geheimnissen. Diese Verschwiegenheit ist heute ein Glücksfall für die Vergewaltigungsopfer in Libyen: Huda schützt ihre Identität, auch um den Preis von Publizität. Lieber schweigt sie gegenüber den Reportern aus Deutschland, als jemanden zu gefährden. Und nur jemand wie Huda, die aus einer freieren Welt kommt und gleichzeitig über ihre Familie mit wichtigen Persönlichkeiten im Lande verbunden ist, darunter Geschäftsleute und Minister, konnte ein System wie das Observatory ersinnen.
Ihr rebellischer Geist lässt sie einen eigenen Weg gehen, der in ihrer Familie aneckt. Sie geht nach Europa, pflegt Umgang mit Trotzkisten und Künstlern, demonstriert immer wieder vor der libyschen Botschaft gegen Gaddafi. Von Gleichgesinnten erfährt sie, dass für den 17. Februar 2011 „Tage des Zorns“ ausgerufen werden sollen. Das ist für sie das Startsignal. Sie will aktiv an der Revolution teilnehmen. Über Tunesien reist sie heimlich in Libyen ein, in ihre Heimat, „zu meiner Mutter“. Sie schließt sich in den Nafusa Bergen im Westen einer Brigade an.
Beim Vorrücken in Richtung auf die größeren Städte in der Ebene stößt ihre Brigade auf Gefängnisse Gaddafis und befreit sie. In einer Zelle finden die Rebellen 80 Frauen vor, über und über mit blauen Flecken und schorfigen Wunden, unbekleidet. „Das war der Moment, in dem ich wusste, wofür ich kämpfte. Diesen Frauen wollte ich helfen.“
Sie sagt: Das neue Libyen, von dem jetzt alle reden, wird es nur geben, wenn den Frauen Gerechtigkeit widerfährt. Wenn sie geachtet werden. Wenn sie gesellschaftlich ernst genommen und politisch beteiligt werden. Deshalb betätigt sie sich auch als Lobbyistin. Wir dürfen sie zu einem Gespräch ins Frauenministerium der Übergangsregierung begleiten. Vize-Ministerin Sahar Banoon, eine energische Frau, empfängt uns hinter einem gewaltigen Schreibtisch. Sie lässt Kaffee und Cola bringen. Dann beginnen die beiden, an einem Gesetzentwurf zu feilen. Hier eine Formulierung ändern, dort einen Passus ergänzen. Das Parlament soll beschließen, dass die vergewaltigten Revolutionärinnen offiziell als Kriegsopfer anerkannt werden. Verbunden mit konkreten Hilfen: eine kleine Rente, Bevorzugung bei der Studienplatzvergabe, medizinische Betreuung.
Kurze Wege zur Macht. Die Vize-Ministerin ist Juristin und hat vor ihrer Berufung ins Amt für das Observatory Rechtsangelegenheiten erledigt. Sie und Huda sind optimistisch, das Gesetz werde beschlossen und bald in Kraft treten. Die Arbeit des Observatory kann es allerdings nicht ersetzen. Nur ein Viertel der betroffenen Frauen und Mädchen, so schätzt die Vize-Ministerin, wird sich offiziell als Opfer registrieren lassen – aus Angst, Familie oder Freunde könnten davon erfahren.
Ein paar Tage später erlebe ich Asma im Glück. Mit einem strahlenden Lächeln betritt sie Hudas Wohnzimmer. Auf dem Arm ihr zweites Kind, vier Monate alt. Sie reicht mir das Baby, ich soll es mal halten. Als ich mit der Kleinen „Engelchen flieg“ spiele, macht sie Handyfotos und kann sich nicht mehr einkriegen vor Kichern. Ein Kind der Liebe, lässt sie durch Huda sagen. Durch deren Vermittlung hat sie einen Ehemann gefunden. Ein Automechaniker, der selbst an der Front gekämpft hat. Er weiß, was Asma geschah. Wenn es nicht klappt mit uns, hatte er gesagt, dann lassen wir uns eben scheiden, als Freunde, dein Ansehen gerettet. Geschieden darf man in Libyen sein. Geschändet nicht.
Huda sagt: „Für ein Lächeln in Asmas Gesicht lohnt das alles. Das Betteln um Geld bei Freunden und Verwandten, um die Frauen zu versorgen. Die Nächte mit nur vier Stunden Schlaf, weil mich ihr Schmerz nicht schlafen lässt. Das ewige Versteckspielen und die Furcht, dass eine der Frauen geoutet wird.“ Genau das ist vor vier Wochen passiert. Eines der Vergewaltigungsopfer wurde ermordet. Sie hatte den Mut gehabt, vor den Kameras des arabischen Senders Al-Jazeera davon zu berichten, wie sie von Soldaten vergewaltigt wurde. Sie hat eine markant hohe Stimme. Ein Bruder sah die Sendung und erkannte die Stimme wieder. Die Familie war´s, sagt die Polizei. Sie ermittele lustlos, klagt Huda. Sie schluchzt los. Mitarbeiterinnen haben sie nach dem Mord verlassen, ihnen werde die Sache zu heiß. Sie wirkt müde, ausgebrannt. Auch sie eine, die sich aufopfern will für eine gute Sache. Das scheint ein inneres Band zu den Frauen zu sein, die sie betreut. Aus Demut vor der Aufgabe, die sie vor zwei Jahren, in jenem Gefängnis in den Nafusa Bergen übernommen hat? Oder weil Opfer prinzipiell zu den Guten gehören, weil Märtyrertum Macht verleiht? Vielleicht ist es beides.
Offensichtlich gibt sie, was sie hat. Manchmal mehr als das. Wir treffen Asma ein letztes Mal. Auf ihrem Gesicht liegen Kummerfalten, sie sieht verzweifelt aus. Als sie erzählt, scheint es, als habe sie den dritten Kreis ihrer Hölle betreten. Ihr Schwiegervater, der von seinem Sohn eingeweiht worden war, hat sich verplaudert. Nun weiß es die ganze Familie. Eine Schwester ihres Mannes begnügt sich nicht mit Hasstiraden. Sie prügelt. Asma hat Vertrauen zu uns gefasst. Sie lüpft ihr langes Kleid und lässt uns die blauen Flecken auf ihren Beinen sehen. In der Nacht mussten sie und ihr Mann aus dem Haus fliehen. Sie haben nichts dabei als die Kleidung, die sie am Körper tragen.
Huda huscht im Haus herum und rafft ein paar Sachen zusammen. Das Nötigste für die ersten Tage: Kopfkissen und Decken, einen Gaskocher, ein bisschen Gemüse. Sie telefoniert herum. Sie muss eine Wohnung für die beiden finden, einen Job für den Mann in Tripolis. Und dabei alle Spuren verwischen, die zu ihnen führen könnten. Weitverzweigt ist die Verwandtschaft des Ehemannes. Die Hölle hat viele Kreise.