Töten für Medaillen

Indien, größte Demokratie der Welt, erweist sich im Nordosten des Landes als Militärregime. Hunderte von Zivilisten werden getötet, ein Sondergesetz sichert Soldaten Immunität zu. Dagegen kämpfen ein Anwalt und eine Frau, die seit 14 Jahren nichts gegessen hat. Die beiden könnten gewinnen.

Babloo verschwindet. Zuerst lösen sich die schwarzen Haare im Nichts auf. Dann verschwimmen seine Gesichtszüge. Vom Kopf bleibt nur eine Silhouette übrig. Konturen des Körpers, der eben noch im Schneidersitz auf einer Bastmatte hockte, zerrinnen. Einzig die Stimme bleibt. Ruhig und kraftvoll durchdringt sie die Schwärze, behauptet sich gegen die Kakophonie von Tempelglocken, Hundebellen und Autohupen, beschwört die anderen Schattengestalten im Raum. „Hungerstreik. Einen ganzen Tag lang. Auf den großen Plätzen der Stadt. Aber ohne Ankündigung. Sonst wird die Polizei aufmerksam.“ Irgendwo aus der Dämmerung kommt Widerspruch: „Die Zeit ist reif. Es müssen viele kommen, die mit uns fasten. Wir rufen die Massen. Dann wagt es die Polizei nicht.“ Argumente geistern hin und her. Mehr auffallen oder sich mehr bedeckt halten? Wer sich exponiert, muss nicht nur Gefängnis fürchten. Er könnte verschleppt werden und für immer verschwinden. Er könnte getötet werden. Trotz Dunkelheit verliert sich der Disput nicht im Chaos. Babloos Stimme ordnet. Das Hören bleibt konzentriert.

Plötzlich Licht. Die Männer und Frauen auf den Bastmatten reiben sich geblendet die Augen. Der Stromausfall ist vorüber. Den Kompromiss, den sie im Dunkeln gefunden haben, schreiben sie im Schein nackter Glühbirnen auf. Kein Aufruf in der Presse für den Hungerstreik, aber Schüler und Studenten werden informiert. Und vor allem sollen die Marktfrauen mobilisiert werden. Das wird die Regierung beeindrucken. Ganz sicher. Hoffentlich. Einer nach dem anderen steht auf und verlässt den Raum, verschluckt von mondloser Nacht.

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Babloo Loitongbam, Menschenrechtsanwalt und Gründer von Human Rights Alert

Babloo ist der letzte. Er löscht das Licht in dem kargen Versammlungsraum, der zu seinem Haus gehört. Eine Etage tiefer befindet sich das Büro von Human Rights Alert. Mit dieser Organisation kämpft der Anwalt Babloo Loitongbam, 44, in seiner nordostindischen Heimat für Menschenrechte. Und gegen ein drakonisches Gesetz, das der Armee kaum kontrollierte Machtbefugnisse einräumt. Der „Armed Forces Special Powers Act“ (AFSPA) erlaubt Soldaten, ohne richterliche Anordnung Häuser zu durchsuchen, Menschen zu verhaften, Versammlungen von mehr als fünf Personen aufzulösen. Es erlaubt ihnen, Verdächtige zu erschießen, gibt ihnen das Recht Shoot to kill. Strafverfolgung müssen die Täter nicht befürchten. Das Gesetz garantiert ihnen Immunität.

Die Armee besteht darauf, dass sie Sonderrechte braucht, um Terroristen bekämpfen zu können. Im Nordosten operieren zahlreiche bewaffnete Rebellengruppen, die für mehr politische Autonomie ihrer jeweiligen Volksgruppe kämpfen. Nordostindien, das sind in acht Bundesstaaten, nur durch einen schmalen Korridor, den „Chicken´s Neck“ (Hühnerhals) mit dem Mutterland verbunden. Eine indische Enklave, umrundet von Bhutan, Bangladesh, China und Burma, bewohnt von 45 Millionen Menschen, die anders aussehen als die meisten Inder im Kernland und tibetisch-burmesischen Ethnien entstammen. Das lässt sie in den Augen der Zentralregierung seit jeher verdächtig und potentiell illoyal erscheinen. Am besten vergleichbar ist die Situation dort mit Tibet: In beiden Fällen kamen die Besatzer von außen, ist umstritten, ob der Herrschaftsanspruch – hier Delhis, dort Pekings – legitim ist, werden Widerstandsgruppen gewaltsam unterdrückt, herrscht das Kriegsrecht. Doch anders als Tibet, auf das die Welt schaut, bleibt der Hinterhof Indiens im Schatten der Öffentlichkeit. Genauso wie die Menschenrechtsverletzungen, die im Schutz eines kaum von außen kontrollierten Armeegesetzes begangen werden. Als es 1958 verhängt wurde, gab es nur wenige Aufständische, heute sind es allein im Bundesstaat Manipur 20 Untergrundgruppen. Sehr wirksam scheinen die Sondervollmachten nicht zu sein. Gleichzeitig werden, legitimiert durch AFSPA, unschuldige Zivilsten verhaftet, vergewaltigt, erschossen. Babloos Organisation hat hunderte solcher Fälle entlarvt.

Seine wichtigste Verbündete ist Irom Sharmila. Seit 14 Jahren fastet sie, um gegen AFSPA zu protestieren. Sie ist die sichtbare Ikone des Widerstands, Babloo dessen Organisator. Auch die Aktionswoche soll die Aufmerksamkeit auf Sharmilas einsamen Kampf lenken: der längste Hungerstreik in der Geschichte. Babloo hofft, von der Polizeiverwaltung die Erlaubnis zu bekommen, Sharmila in den nächsten Tagen in ihrer Zelle besuchen zu dürfen.

Die Marktfrauen kommen als erste. Sie hocken sich in Reihen nieder, ähnlich wie sie es auf dem Ima Keithel tun, dem Markt im Zentrum Imphals, der Hauptstadt Manipurs, der ihnen ganz allein gehört, den Imas. Hier bieten sie Stoffe und Gemüse, Töpfe und T-Shirts feil, hunderte von ihnen. Doch heute bleiben ihre Stände verwaist. Die Imas sind zornig. Viele von ihnen sind Witwen, obwohl noch keine 25 Jahre alt. Ihre Männer wurden bei „fake encounters“ erschossen, vorgetäuschten Kampfeinsätzen der Armee. Wütend sind die Frauen, weil es keine Untersuchung der Fälle gibt, erst recht keinen finanziellen Ausgleich. Ohne Rente, ohne männlichen Schutz müssen sie ihre Kinder durchbringen. Deshalb schließen sich die Imas dem Protestaufruf an. Lassen sich nieder im Schatten eines Zeltdachs, das für den Fastentag gebaut wurde. Ihr Mitgefühl gilt Sharmila. Wenigstens einen Tag wollen wir tun, was sie tut, sagen die Imas. Nichts essen, nichts trinken, bis die Sonne unter geht. „Gut dass sie da sind“, freut sich Babloo, „wenn die Imas protestieren, horcht die Regierung auf.“ Der Markt ist das Herz von Imphal, der Hauptstadt Manipurs. Dort werden nicht nur Lebensmittel umgeschlagen, er ist gleichsam ein politischer Stimmungsbarometer.

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Hungerstreik aus Solidarität mit Irom Sharmila

Als nächste kommen die Schüler. Die Mädchen in rosa Blusen und orangenen Wickelröcken, die Jungen in blauen Hemden und schwarzen Hosen. Nach Geschlechtern getrennt suchen sie Schatten unter den umstehenden Bäumen. Immer öfter bleiben Passanten stehen, erkundigen sich, einige hocken sich in die Reihen der Fastenden. Ein Student fragt Babloo: „Postet ihr die Aktion auch auf Facebook? Dann verbreitet sich die Sache in Windeseile.“ Babloo wendet sich an eine Mitarbeiterin. Nein, sagt sie, soziale Medien würden nur selten genutzt. „Dann mach doch mal ein paar Fotos und stell sie ins Netz, gleich jetzt“, sagt Babloo und fügt hinzu: „Ist immer eine gute Idee, gute Ideen sofort umzusetzen.“

Wenn Babloo spricht, wirkt er größer. Er ist ein gewandter Redner, er flicht Episoden aus der Geschichte Indiens ein, zitiert europäische Denker. In solchen Momenten erscheint er mehr als Philosoph denn als politischer Aktivist. Verbissenheit ist ihm fremd, jener Dogmatismus und die Feindbilder, die Streitern „für die gerechte Sache“ häufig zu eigen sind. Aus seiner Sicht kämpft er weniger gegen als für etwas. Für mehr Menschlichkeit. Demokratische Kontrolle der Armee. Gleiche Rechte der Einwohner Nordostindiens, die von der Zentralregierung in Delhi „wie Untertanen in einer Kolonie behandelt“ würden.

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Klartext über das Sonderermächtigungsgesetz vor der Kamera

Wenn Babloo nicht spricht, scheint er zu verschwinden. In der Menschenmenge, die sich zum Fasten versammelt hat, ist er schwer auszumachen. Er ist schmal, durchschnittlich groß, hat leicht chinesische Gesichtszüge, wie die meisten Nordostinder. Tag für Tag trägt er die gleiche Kombination, beige Hosen und hellblaue Hemden. Durchschnittlichkeit ist eine gute Tarnung für einen, der die Mächtigen herausfordert und ihre Rache fürchten muss. Er wurde mehrfach verhaftet. SMS mit Todesdrohungen löscht er. Aber es bleibt ein Gefühl ständiger Bedrohung. Angst lässt sich nicht so leicht wegdrücken.

Das Fasten verlangsamt ihn. Als Diabetiker muss er besonders auf seinen Kräftehaushalt achten. Bis die Delegation aus Südkorea eintrifft, setzt er sich in den Schatten. Die Journalistin einer großen Tageszeitung setzt sich neben ihn auf die Matte. Ruhepause vorbei. Babloo schildert ihr, welche Methoden Human Rights Alert (HRA) einsetzt, um die Abschaffung des Armeegesetzes zu erreichen. „Zunächst einmal nutzen wir alle gesetzlichen Möglichkeiten. Jede noch so kleine Chance, mit dem bestehenden Recht etwas zu verändern.“ Er zählt auf, wie oft HRA schon das Verfassungsgericht angerufen hat und die nationale Menschenrechtskommission. „Dazu war es wichtig, die Fälle von ‚fake encounters’ hieb- und stichfest zu dokumentieren.“ Über die Jahre hat HRA in 1528 Fällen bewiesen, dass Soldaten Unschuldige töteten. Sie nennen es „außergerichtliche Hinrichtungen“. Als Raubmord, weil die Opfer viel Geld bei sich hatten. Aufgrund von Denunziationen. Aus Rache. Kein einziges Mal wurde jemand bestraft. „Im Gegenteil, die Mordschützen werden befördert und mit Tapferkeitsmedaillen belohnt, weil sie ja angeblich Terroristen ausgeschaltet haben.“ Töten für Orden. Das schaffe eine Atmosphäre von Angst und Gewalt in Nordostindien. „Fälle dokumentieren, das hört sich wenig spektakulär an. Aber lückenlose Beweise sind nun mal das Fundament, auf dem wir unsere Strategien bauen.“ Oft hatten die Rechercheure leichtes Spiel, weil die außergerichtlichen Hinrichtungen nur stümperhaft vertuscht worden waren. So wurde die Leiche eines angeblichen Terroristen präsentiert, mit ein Dutzend Kugeln im Körper, dem ein Kampfanzug übergestreift worden war – ohne Einschusslöcher. Die Täter fühlten sich unantastbar.

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Babloo Loitongbam in Diskussion mit einem Beamten der Gefängnisverwaltung

Der bisher größte Erfolg, berichtet Babloo der Journalistin, die ihm ihr Mikrofon hinhält, war eine Kommission, die der Oberste Gerichtshof Indiens im Jahr 2013 entsandt hatte. Nach dem Zufallsprinzip wählte sie sechs der 1528 Fälle aus und recherchierte nach. „Zum ersten Mal mussten Offiziere vor Gericht erscheinen. Man konnte zusehen, wie sie sich in Widersprüche verwickelten, immer unsicherer wurden, ins Schwitzen kamen.“ Dieser Moment, sagt Babloo, sei für ihn ein Wendepunkt gewesen. „Die Armee war uns immer riesig erschienen, unbesiegbar. Im Gerichtssaal wurde sichtbar, wie verwundbar dieser Riese ist, allein durch die Wahrheit.“ Das Urteil der Kommission war ein Triumph. Alle Fälle seien „fake encounters“ gewesen, sprich Mord. Seitdem gibt es zwar weiterhin gewaltsame Übergriffe auf die Zivilbevölkerung, aber keine Toten mehr. „Wir können stolz darauf, das Töten erstmal gestoppt zu haben.“ Dennoch würden Sharmila und er nicht nachlassen, „denn unter den Bedingungen von Kriegsrecht wird es keinen Frieden im Nordosten geben.“

Neben rechtliche Mittel treten öffentliche Proteste. Babloo blickt über die langen Reihen der Fastenden. Jetzt, in der Mittagszeit, ist die Menge auf einige hundert angewachsen. Auf anderen Plätzen der Stadt versammeln sich weitere Gruppen. Die Sonne brennt senkrecht vom Himmel, es ist heiß. Die Demonstranten sitzen schon seit Stunden, einige kämpfen mit Kreislaufproblemen. Was können schwächelnde Protestler gegen einen mächtigen Militärapparat ausrichten? Babloo ist von der Wirksamkeit gewaltfreien Widerstands überzeugt: „Das Schwache bricht die Macht.“ Er vertraut der Überlegenheit der Herzen über die Scheinautorität von Waffen.

Die Wissenschaft gibt ihm Recht. Eine Forschergruppe der Harvard University untersuchte Widerstandsbewegungen zwischen 1900 und 2006. Wer hat Erfolg? Sie fand heraus, dass 53 Prozent der gewaltfreien, aber nur 26 Prozent der bewaffneten Bewegungen ihre politischen Ziele erreichten. Sicher sind Anschläge von Terroristen spektakulärer als Hungerstreiks, Boykotte, Protestmärsche und Sitzblockaden. Aber das Ziel, in der Bevölkerung Sympathie zu wecken, erreichen sie nur sehr begrenzt. Außerdem ist militärischer Kampf meistens Männersache. Dagegen sind gewaltfreie Proteste anschlussfähig. Frauen, Alte, Kinder und Jugendliche können teilnehmen, wie sich am Fastentag in Imphal zeigt. „Wir können auch mit Zustimmung aus dem Ausland rechnen,“ sagt Babloo, der häufig nach Genf reist und vor der Internationalen Menschenrechtskommission spricht. Er weiß: Reagiert ein Regime mit Gewalt auf friedliche Proteste, so wie in Nordostindien der Fall, wächst die Solidarität meist noch, sowohl international als auch unter den Mitgliedern einer Bewegung.

Die Harvard-Studie nennt weitere Erfolgsfaktoren. Anders als Gruppen, die auf die Argumente ihrer Gewehre zählen, erweisen sich gewaltfreie Bewegungen offener für Dialoge. Sie wollen mit der Gegenseite zu verhandeln, sind bereit, Lösungen zum gegenseitigen Nutzen zu finden. So auch Babloo. Politische Überzeugungsarbeit ist Teil seiner Strategie. „Wir brauchen Szenarien für den Nordosten, die auch für die indische Zentralregierung attraktiv sind. Unsere Region soll in den kommenden Jahren wirtschaftlich stark entwickelt werden. ‚Tor zu Südostasien’ – gut! Aber das funktioniert nur, wenn Frieden und Sicherheit herrschen. Sonst investiert hier niemand.“ Die Regierung solle ehrlich mit Rebellen und Separatisten verhandeln, das Armeegesetz abschaffen, die Menschenrechte wiederherstellen, dem Nordosten gleiche Rechte wie allen Bundesstaaten gewähren. „Dann könnte dieses Land erblühen.“

Die Delegation aus Südkorea trifft unter dem Zeltdach ein. Ihre Stiftung verlieh Irom Sharmila 2007 den vielbeachteten Gwangju Preis für Menschenrechte. Damit ehrten sie „einen noblen Kampf“ gegen das Armeegesetz. Jetzt, sieben Jahre später, hungert Sharmila immer noch, und die Abgesandten aus Seoul mischen sich unter Witwen, Marktfrauen und Studenten. Im Laufe des Tages treffen weitere bekannte Gwangju-Preisträger aus anderen Ländern ein. Babloo begrüßt. Gibt Interviews in die Kamera. Bereitet eine Pressekonferenz vor, direkt neben dem Fastenzelt. „Die indische Regierung ist sehr sensibel für Kritik aus dem Ausland“, sagt Babloo. Das kann helfen. Aber auch nach hinten losgehen. Wenn die Bekundungen internationaler Solidarität zu massiv werden, sind harsche Gegenreaktionen zu befürchten. Die Aktivisten von Human Rights Alert müssen feinfühlig austarieren zwischen unauffälliger Wühlarbeit und öffentlicher Inszenierung. Verschwinden, und im rechten Moment auftauchen. Am Abend wirkt Babloo erschöpft, aber auch zufrieden. Viele hundert Demonstranten werden von verschiedenen Plätzen Imphals gemeldet. Keine Polizeiaktion.

Ein paar Tage später ist es so weit. Babloo darf Irom Sharmila besuchen. Die Gefängnisverwaltung hat, nach langwieriger Prozedur, seinem Antrag stattgegeben. 30 Minuten sind genehmigt, mehr nicht. Er setzt sich auf seinen Motorroller und fährt los. Asian Highway steht auf den Schildern am Straßenrand. Der Roller quält sich durch Schlaglöcher, Staubwolken und Stau. An den großen Straßenkreuzungen stehen Jeeps der Armee, besetzt mit Soldaten, die ihre Köpfe mit schwarzen Tüchern vermummt haben, als wären sie in einem Anti-Terror-Einsatz. Dabei sitzen sie nur und rauchen. Babloo überholt Rikscha-Fahrer, die auf uralten Rädern schwer in die Pedalen treten. Auch sie lassen ihre Gesichter hinter Tüchern verschwinden, mit einem schmalen Schlitz für die Augen. „Dahinter“, sagt Babloo, „ verbergen sich oft Akademiker, die so arm sind, dass sie Rikscha fahren müssen. Sie schämen sich. Nachbarn sollen sie nicht erkennen.“ Der Bundesstaat Manipur leidet an hoher Arbeitslosigkeit. Die Wirtschaft stagniert. Niemand will in einer Krisenregion investieren.

Babloo erreicht das Nehru-Krankenhaus. Er betritt im Erdgeschoss eine Art Polizeiwache. Krankenschwestern wuseln herum. Ein Offizier nimmt die Personalien des Menschenrechtsanwalts auf, dann führt ihn eine Uniformierte durch einen halbdunklen Flur zum angrenzenden Zimmer. Die Tür ist nicht abgeschlossen. Babloo schiebt einen Vorhang beiseite, dessen hellgrüne Farbe an Operationskleidung erinnert. Irom Sharmila erhebt sich langsam von ihrem Bett auf und geht ihm ein paar kleine, schwankende Schritte entgegen. Während sie sich umarmen, schiebt Sharmila den dünnen Schlauch, der aus ihrem rechten Nasloch hängt, mit einer routinierten Geste zur Seite. Seit 14 Jahren hängt diese Röhre in ihrem Gesicht. Genauso lange hat sie keine Speise, keinen Tropfen Wasser in ihren Mund gelassen.

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Babloo und ein Freund besuchen Irom Sharmila im Polizeigewahrsam

In den ersten Minuten schweigt sie. Sie schaut nur. Ihre großen schwarzen Augen blicken zur Decke, zum Fenster, aft, das Armekurz zu Babloo. Es wirkt, als brauche sie Zeit, nach vielen einsamen Stunden in dieser Zimmerzelle, sich auf Besuch einzulassen. Dann sagt sie: „Ich habe von Modi geträumt.“ Ihre Worte wirken, als müsse sie sich jeden Laut abringen. Leise spricht sie weiter, mit sanfter Kraft. Im Traum habe der indische Premier Narendra Modi vor ihr gestanden. Er habe gelächelt. „Babloo, ich spüre ganz deutlich: Dieser Mann hätte die Kregesetz abzuschaffen.“ Früher sei er ihr verdächtig vorgekommen. Etwa als ein Mob hinduistischer Fanatiker im Bundesstaat Gujarat Jagd auf Muslime machte und hunderte von ihnen meuchelte; selbst Kinder waren mit Benzin übergossen und bei lebendigem Leib verbrannt worden. Damals war Modi dort Ministerpräsident, es gab Anschuldigungen, er hätte gemeinsame Sache mit den Mördern gemacht. Aber jetzt: der Traum, Modis Lächeln, „Babloo, ich weiß, dass wir gewinnen können.“

Sie nimmt zwei Plüschtiere auf den Schoß, einen Hund und einen Teddy, „die habe ich gestern bekommen. Die Menschen vergessen mich nicht hier drinnen.“ Ihr Gesicht ist jetzt weich und jung, die 42jährige wirkt wie ein Mädchen. Auf die gefliesten Wände hat sie Postkarten aus aller Welt geklebt, die Anhänger ihr senden. Poster von Nelson Mandela und Mahatma Gandhi, Tierbilder, Berge, Seen. Dutzende Kakteen drängeln sich auf dem schmalen Fenstersims, ein Käfig mit zwei Zwergkaninchen findet Platz unter einem Tisch, darauf ein kleiner Globus. Es wirkt wie der Versuch, die ganze Welt auf drei mal drei Metern zu komprimieren. „Die Natur fehlt mir. Der Wald. Das Grün. Gute Luft.“ Sie deutet an, was sie noch mehr vermisst: „Ich bin eine Frau mit ganz normalen Bedürfnissen.“

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Irom Sharmila, seit 14 Jahren im Hungerstreik

Babloo sagt später: „Am meisten leidet sie unter der Einsamkeit.“ Bis auf Briefe eines Verehrers aus England lässt ihr der Polizeigewahrsam keine Chance, Liebe zu leben, keine Zärtlichkeit. Inhaftiert ist sie mit einer fadenscheinigen Begründung. Ihr Fasten sei versuchter Selbstmord und somit strafbar. Dafür darf jemand in Indien höchstens 365 Tage gefangen gehalten werden. So kommt es zu der Absurdität, dass Sharmila am Ende jeden Jahres für 24 Stunden frei kommt. Polizisten verfolgen dann jede ihrer Bewegungen: Isst sie oder isst sie nicht? Da sie weiter fastet, wird sie zurück in die Zelle gesperrt.

Sharmila braucht das Gefühl, in ihrem Kampf unterstützt zu werden. Babloo erzählt von den Solidaritätsaktionen dieser Woche. „Haben viele mitgefastet?“ –„Ja, es waren tausende. Nicht nur in Imphal. Auch in anderen Städten in Nordostindien. Sogar in Delhi.“ Human Rights Alert ist der politische Arm, der den Hungerstreik aus dem Zellenzimmer hinausträgt. Babloo spricht alle Kampagnen mit Sharmila ab. Sie opfert ihre Freiheit. Das ist für ihn ein dauernder Ansporn, im Kampf gegen AFSPA nicht nachzulassen. „Frieden“, sagt Babloo, „wird es im Nordosten erst dann geben, wenn dieses drakonische Gesetz weg ist.“ Sharmila ergänzt: „Wenn sich die Regierung in Delhi für uns und unsere Sorgen und Nöte öffnet, werden sich auch die Herzen der Rebellen öffnen. Dann sind Kompromisse möglich. Aber sie sehen uns nicht auf Augehöhe. Sie schauen von oben herab. Das verzerrt den Blick.“ Sie deutet auf die beiden Kaninchen. „Wenn ich die Tiere von oben betrachte, könnte ich meinen, sie hätten nur Nasen, keinen Mund. Erst wenn ich auf die Knie gehe, sehe ich ihr ganzes Gesicht.“

Sharmila hat schon lange vor ihrem Hungerstreik gegen das Armeegesetz protestiert. Sie war als 28jährige eher schüchtern, mit leiser Stimme. Als Mitglied von Human Rights Alert half sie beim Verfassen von Flugblättern, zeichnete Petitionen, marschierte mit. Doch die Regierung zeigte sich wenig beeindruckt. Dann geschah am 3. November 2000 etwas, was Sharmila erschütterte. Am Morgen hatten Rebellen im Westen Imphals einen Armee-Lastwagen angegriffen. Zwar blieben die Soldaten unverletzt, aber je länger sie erfolglos nach den Attentätern fahndeten, desto wütender wurden sie. Und nahmen auf fürchterliche Weise Rache. Ganz in der Nähe, in Malom, warteten zehn Menschen an einer Bushaltestelle. Büroangestellte, Teenager, eine 60jährige Frau. Die Uniformierten eröffneten das Feuer und schossen alle zehn nieder.

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Sinam Chandrajini hat beim Massaker von Malom zwei Söhne verloren

Als Sharmila von dem Massaker hörte, fasste sie den Entschluss, in einen unbefristeten Hungerstreik zu treten. Sie offenbarte sich ihrer Mutter und bekam deren Segen. Zwei Tage später, als die Ausgangssperre aufgehoben wurde, radelte sie zu Babloos Haus. „Als sie mir sagte, was sie vorhat, war ich zunächst dagegen“, erinnert er sich. „Mein Eindruck war, dass sie nicht vollständig verstand, welchen Weg sie da gehen wollte.“ Sharmila blieb standhaft. Babloo gab nach: „Ich sagte ihr: Wenn du das wirklich willst, dann lass es uns auch öffentlich machen. Dein Opfer muss sich lohnen.“

Hungerstreik ist eine Form, körperlich zu verschwinden, um politisch sichtbar zu werden. Nach Tagen der Nahrungsverweigerung beginnt der Körper, sein eigenes Fett aufzuzehren. Später wird Gewebe abgebaut, die Muskulatur schwach, die Atmung flacher. Manche Hungerstreikende, die bis zum Äußersten gingen, starben nach 50 oder 60 Tagen. Das will die indische Regierung im Fall Sharmilas auf jeden Fall verhindern. Dreimal am Tag wird ihr Nährlösung durch den Schlauch in der Nase eingeflößt. Dennoch ist sie mager, kann sich nur langsam bewegen, ihre Lippen formen die Worte mühsam. „Das ist keine Bestrafung. Ich spüre keinen Hass, gegen niemand. Ich habe eine ganz einfache Entscheidung getroffen. Dabei bleibe ich. Mich trägt der Glaube an Gott. Ich weiß: Alles ist gut so, wie es geschieht.“

Sharmila und Babloo hocken auf dem Boden der Zelle. Sie wirken wie Schwester und Bruder. Sie gehen den Weg schon lange zusammen. „Ich muss immer wieder an Delhi denken“, sagt Sharmila zu ihm. Das war ein großes Abenteuer damals, vor acht Jahren. Mit Babloos Hilfe war es ihr gelungen, aus Imphal zu verschwinden. 2006 musste sie wieder einmal für einen Tag aus dem Polizeigewahrsam entlassen werden. 24 Stunden, dann wieder Arrest? Die beiden ersannen einen Plan, sie aus dem von der Armee belagerten Manipur heraus zu bringen. Nach Delhi! Vor die Kameras der nationalen Presse, vor die Augen der Weltöffentlichkeit! Unter dem Namen I.S. Chamu wurde ein Ticket für sie gebucht. Dennoch konnten die beiden kaum hoffen, über den Flughafen von Imphal hinaus zu kommen. Er ist winzig, schwer bewacht, jeder kennt jeden, und Sharmila war schon damals eine Ikone des Protests. Doch ein Zufall ließ sie unsichtbar werden: Ein Bundesminister kam gerade an, die Sicherheitsbeamten umschwirrten ihn, unbemerkt konnte Sharmila das Flugzeug besteigen. Der erste Flug ihres Lebens! An Bord schreibt sie ein Gedicht: „Weit über dieser verwirrten Welt flog ich in den Himmel und erreichte den Ort wo mein Schöpfer mich auf Probe stellte.“

Nach der Landung in Delhi hatten sie keine Zeit zu verlieren. Sie fuhren direkt zum Grabmahl von Mahatma Gandhi, ein nationales Heiligtum. Babloo hatte die Presse informiert. TV-Teams filmten Sharmila, wie sie der Großen Seele einen Strauß Ringelblumen zu Füßen legte. Einen weißen Schal um ihre schwarzen lockigen Haare gewickelt, saß sie seelenruhig im Gras und antwortete auf die Fragen der Journalisten. Abends waren diese Bilder auf allen Kanälen zu sehen. „Das war der Durchbruch“, meint Babloo. Die Streiter wider das Armeegesetz wurden nicht länger als spinnerte Separatisten abgetan. „Es war,“, sagt Sharmila, „als hätte der Vater der Nation unseren Widerstand gesegnet.“

Die halbe Stunde Besuchszeit ist um. Babloo muss gehen. Sharmila bleibt auf dem Bett zurück, den Hund und den Teddy im Arm. Ihre Augen blicken dem Freund nach, dann aus dem Fenster. An der Zellendecke bleibt der Blick haften, in der Leere, scheint sich einzustimmen auf die Einsamkeit.

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Angehörig trauern um die Opfer des Massakers von Malom

Hunderte Kerzen brennen schon, als Babloo aus der Dunkelheit auftaucht. Er parkt den Motorroller und betritt ein kleinen Tempel, aus flackernden Lichtern gebaut. Ihr Schein grenzt ihn gegen die umgebenden Reisfelder ab. Die Bushaltestelle liegt im Schatten. Hier wurden zehn Menschen innerhalb weniger Minuten erschossen. Das war im Jahr 2000 und der Auslöser, warum Sharmila ihren Hungerstreik begann Heute, wie an jedem Jahrestag, versammeln sich die Angehörigen. Auch Sinam Chandrajini ist gekommen. Sie ist 64 Jahre alt. Bei dem Massaker verlor sie zwei Söhne. Tränen rollen die Wangen herunter, ihr Gesicht ist schmerzverzerrt. „Wie konnten die Soldaten das tun?“ Einer der beiden war damals 17. Vom indischen Premier hatte er eine Tapferkeitsmedaille bekommen, weil er ein anderes Kind vor dem Ertrinken gerettet hatte. Er starb im Kugelhagel einer Patrouille der paramilitärischen Assam Rifles, die angeblich Terroristen bekämpfte. Babloo hält die Hand der alten Frau, die heute ganz in weiß gekleidet ist, für Hindus die Farbe der Trauer. „Sie werden nicht aus unserem Gedächtnis verschwinden“, versucht er sie zu trösten. Babloo zündet eine Kerze an, sie beleuchtet ein ernstes, aber nicht verbittertes Gesicht. Er umarmt Sinam und die anderen Trauergäste, setzt sich auf den Roller und verschwindet wieder in der Schwärze der Nacht.

Der Lärm der Stadt ebbt langsam ab. Bei Dunkelheit wagen sich nur wenige Bewohner Imphals auf die Straße. Frauen ohne Begleitung gar nicht. Das Trauma jahrelanger Ausgangssperren wirkt, vor allem die Angst vor Vergewaltigungen. Im Büro angekommen, lässt sich Babloo in einen abgeschabten Sessel fallen. Der Tag hat ihn sichtlich erschöpft. Nach einem Wirbelsturm von Interviews, Mails, Diskussionen genießt er die Stille. Er denkt darüber nach, was ein Menschenrechtsanwalt können muss, um Erfolg zu haben. Er brauche Hartnäckigkeit, um bei Niederlagen nicht sofort aufzugeben. Feingefühl für eine Balance der Kräfte, um Gesetze zwar nicht zu brechen, aber soweit wie möglich zu dehnen. Und ein Gespür dafür, wie man Protest mit starken Bildern inszeniert. Etwa nach den Ereignissen im Juli 2004. Um Mitternacht drangen Soldaten in das Haus der 32jährigen Manorama Devi ein und verschleppten sie. Sie wurde verdächtigt, zu einer Untergrundgruppe zu gehören. Am nächsten Tag wurde ihre Leiche gefunden: halb bekleidet, übersät mit Schusswunden, einige davon in die Genitalien. Die Obduktion ergab, dass sie auch vergewaltigt worden war. Babloo und seine Mitstreiter waren entsetzt. „Diese Brutalität sprengte alles, was wir bis dahin erlebt hatten.“ Aber wie darauf reagieren? Was ist solchem Schrecken angemessen? Er ersann mit seinen Mitarbeitern eine Strategie, die das ganze Land aufwecken sollte. Ein paar Tage später zogen 14 Frauen mittleren Alters vor das Kangla Fort, in dem die Armee stationiert war, mitten in Imphal. Von einer Sekunde auf die andere ließen sie ihre Kleider fallen. Sie hielten ein langes, weißes Banner, auf dem in roten Lettern stand: „Indian Army: Rape us!“ Sie riefen: Vergewaltigt uns, nicht unsere Töchter! Pressefotografen, denen Babloo vertrauen konnte und zum richtigen Zeitpunkt dorthin bestellt hatte, hielten das Bild fest, Zeitungen in ganz Indien druckten es. Vier Monate später verließen die Assam Rifles das Fort, es wurde der Stadt zurückgegeben.

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Der Ehemann von Binaroi Sorokhaibam wurde von Soldaten bei einem vorgetäuschten Kampfeinsatz erschossen

Doch es gehe nicht dauernd um spektakuläre Aktionen, sagt Babloo. „Meine Aufgabe besteht darin, menschliches Leid in juristische Fälle zu verwandeln. Dazu muss ich die Gesetze kennen. Aber noch wichtiger ist es, mich in die Seelen einfühlen zu können.“ Er hat Anthropologie studiert, die Wissenschaft vom Menschen, und dann Jura. Eine glückliche Kombination für die Arbeit, die er macht. „Aber nicht für meinen Vater. Der hoffte, ich würde einmal ein reicher Rechtsanwalt. Als ich vom Studium in Delhi zurückkam, sagte er: Junge, mit Menschenrechten lässt sich doch kein Geld machen. Du springst in ein Loch ohne Boden! Er war enttäuscht. Das machte es schwierig für mich. Ich wollte ihm doch gefallen!“

Dennoch blieb er bei dem, was er Herzensangelegenheit nennt. Diese Unbeirrbarkeit imponierte dem Vater. Er baute für ihn am Elternhaus an, dort ist heute Büro und Versammlungsraum von Human Rights Alert. Das Geld für die vierköpfige Familie verdient seine Frau, eine Regierungsbeamtin. Das ist ungewöhnlich, nicht nur in Indien. „Manchmal frage ich mich: Enthalte ich meinen Kindern Chancen vor?“ Er könnte Angebote aus dam Ausland annehmen, mehr Geld verdienen, der Familie ein angenehmes Leben mit westlichen Standards bieten, vor allem Sicherheit. „Aber ich bin ein Manipuri. Die Kultur dieses Landes ist tief in mir eingeprägt. Diese Wurzeln will ich nicht kappen. Hier kann ich am meisten bewirken. Und solange Sharmila im Hungerstreik ist, könnte ich sowieso nicht weggehen.“ West-Kontakte bedeuten für ihn weniger eine Versuchung zu emigrieren denn eine Lebensversicherung, weiter machen zu können. Seine Bekanntheit macht es Regierung und Armee schwer, ihn einfach von der Bildfläche verschwinden zu lassen. Babloo hat aufgehört zu zählen, wie oft er verhaftet worden ist. Todesdrohungen kommen von der anderen Seite, den Mitgliedern von Untergrundgruppen. Es lebt sich gefährlich, zwischen zwei Fronten.

Die Armee äußert sich offiziell nur selten über AFSPA. Aber schließlich erklärt sich doch ein in Manipur stationierter Offizier bereit, das Schweigen zu brechen. „Aber keine Fotos, kein Name!“ Er kommt in Zivil zum Treffen in einem großen Hotel in Imphal. In der Version der Geschichte, die er präsentiert, sind die Soldaten die eigentlichen Opfer. „Wir sind gar nicht dafür ausgebildet, Terroristen zu jagen“, sagt er, „und doch riskieren wir dabei täglich unser Leben.“ Keiner von ihnen blicke noch durch, welche Untergrundgruppen eigentlich wofür kämpfe. Und die toten Zivilisten? „Bedauerliche Einzelfälle.“ Die Vergewaltigung und Tötung von Manorama Devi? „Daraus haben wir gelernt. Wir bestrafen die Täter intern.“ Begünstigt die Immunität nicht Übergriffe durch Soldaten? „Wir müssen unsere Leute schützen. Und dürfen unseren Ruf nicht beschmutzen lassen.“

Fünf Uhr morgens. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen. Angenehm kühl ist es im Haus, als Babloo aufsteht und die Treppen hinunter steigt. Im Erdgeschoss hat er sich einen kleinen Altar gebaut. In der südwestlichen Ecke, wie es Tradition ist in Manipur. Babloo zündet ein Räucherstäbchen an, streut orangene Blüten, verneigt sich vor Sanamahi, Gottheit der ewigen Schöpfung. Er setzt sich mit gekreuzten Beinen auf dem Boden, verharrt regungslos, sein Atem geht regelmäßig, die Augen sind geschlossen. In einer solchen Meditation hatte er vor kurzem eine Vision: Narendra Modi, der Premier, besucht Sharmila in ihrer Zelle. Er verkündet die Abschaffung des Armeegesetzes. Dann reicht er ihr symbolisch den ersten Bissen Nahrung nach 14 Jahren. Ein Bild, das seinen Optimismus nährt. Babloo verschwindet. Versinkt in seinem Inneren. Fühlt sich eins mit sich und mit der Welt. Mit den Witwen, für die er streitet. Aber auch mit den Offizieren, gegen deren Methoden er kämpft. Er genießt einen versöhnlichen Moment.

Irom Sharmila und Michael Gleich

Irom Sharmila, seit 14 Jahren im Hungerstreik